Liebe Agenturmenschen, stellt euch folgendes Briefing vor:

Mobilisieren Sie eine internationale Bewegung für ein eher wolkiges Ziel, unabhängig von bestehenden Strukturen, ohne Stars und ohne nennenswertes Budget.
Aber mit dem Ziel, wirksam Einfluss auf die mediale Berichterstattung, die politische Stimmung und die Wahlen in mehreren Ländern zu nehmen.

Na danke.

Am letzten Wochenende sind bereits 20.000 Menschen in ganz Europa dem Aufruf von Pulse of Europe gefolgt, für den Zusammenhalt Europas auf Straßen und Plätze zu gehen, Tendenz steigend.

Man kann das beschämend für unsere Agenturbranche nennen. Auch die Kampagnenprofis der NGOs und von Campact & Co. dürfen sich fragen, ob sie von gestern sind, denn am Anfang ihrer Mobilisierung stand immer erst mal das Fundraising. Bei Pulse of Europe wohl nicht.

Glaubwürdigkeit mit No-Budget-Ansatz

Wie traurig wirkten die Pro-Freihandelsmaßnahmen von BDI und VDA im Vergleich zu einer Bewegung wie Pulse, schon allein, weil wirtschaftsfinanzierte Kampagnen mit einer gefühlten Glaubwürdigkeit unter dem Nullpunkt einsteigen. Auch wenn die Ziele faktisch nah beieinander liegen – pro grenzüberschreitendes Miteinander bei aller Unterschiedlichkeit der Partnerländer – wer käme auf die Idee, beide Initiativen auf eine moralische Ebene zu stellen? Wo Geld keine große Rolle spielt, schrumpft auch die Angreifbarkeit.

Hier geht es aber weniger um Agenturen als um Wahlen. Und auch die Parteien dürfen sich wundern. In den zurückliegenden Jahrzehnten haben sie sich daran gewöhnt, im Wettbewerb um begeisterungsfähigen Nachwuchs immer öfter den Kürzeren zu ziehen. Während die Parteien (nun auch die Grünen) immer weiter überalterten, haben die Special-Action-Groups für Klima und Umwelt, Frauen und Menschenrechte, gesunde Ernährung und sexuelle Toleranz deutlich geringere Mobilisierungsprobleme. Das Lamento von der abnehmenden Bindung an Parteien wurde begleitet von der Freude über inhaltlich getriebenes Engagement, das in the long run spürbar Gesellschaft veränderte. So wurden innerhalb weniger Jahre schwule konservative Spitzenpolitiker akzeptiert, in Gramm gemessene CO2-Einsparung zum wichtigsten KPI ethischen Verhaltens und gegenderte Reden zum Alltag in Bierzelten.

Neue Qualität, weniger Prognostizierbarkeit

Pulse könnte der Vorbote einer neuen Qualität von Special Action Groups sein. Weder verbindende ökonomische Interessen noch ethische oder religiöse Klammern, keine Promis, keine finanzstarken Akteure tragen den Erfolg. Vermutlich wären sie alle sogar eine existenzielle Gefahr für Pulse. Pulse lebt davon, das Gegenteil zu sein. Sogar ihre zeitliche Perspektive ist unklar, zunächst mal 2017 und dann weitersehen – ein Riesenunterschied zu Organisationen, die sich großen Zielen verschrieben haben und damit selbstverständlich für dauerhaft unentbehrlich halten.

Wo Geld keine große Rolle spielt, schrumpft auch die Angreifbarkeit

Für eben dieses Wahljahr wirft – nach dem Phänomen Schulz – auch Pulse die Frage auf, wie vorhersagbar politische Meinungswellen noch sind. Offensichtlich hat die neue Kommunikationswelt weitergehende Effekte als den vieldiskutierten Facebook-Einfluss auf US-Wahlen. Martin Schulz kann unerwartet erfolgreich mobilisieren, weil er in Berlin der unbelastete Newcomer ist und zugleich aus Brüssel Profil und Bekanntheit mitbringt. Pulse kann ohne Struktur und Fundraising mobilisieren, weil es in Spirit, Botschaft, Organisation und Offenheit der perfekte Gegenentwurf zu den nationalistischen Populisten ist.

Die neue Unsicherheit

Beide verbindet zweierlei: Einfache Botschaft in klarer Sprache. Aber prognostiziert hat beides niemand. Möglich wurden diese Erfolge durch die Bereitschaft relevanter politische Teilöffentlichkeiten, sich anstecken zu lassen, völlig ohne gekauften medialen Raum, ohne Kampagnenstrategie und ohne durchorganisierte Content-Redaktionen. Vielen anderen Köpfen und Initiativen wird ein derartiger Erfolg verwehrt bleiben. Aber niemand sollte sich einbilden, heute alle Akteure zu kennen, die bis zum 24. September Welle machen.

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Jörg Ihlau
Jörg Ihlau, Dipl. Volkswirt, Jg. 1962, seit 2006 Geschäftsführer Serviceplan Public Opinion. Zuvor 1991 bis 1996 Bundesbauministerium, dann Geschäftsführer des Pleon-Hauptstadtbüros. Berät Verbände, Ministerien und öffentliche Institutionen.