Viel Weitblick hat diese Prognose nicht erfordert: Mit dem programmatischen Zusammenrücken von SPD, Union und Grünen wurden Köpfe bei Wahlen noch entscheidender. Wenn die etablierten Parteien sachlich-pragmatische Linien verfolgen – und damit durchaus einem Mehrheitsbedürfnis folgen – während die Parteienbindungen dem langen Trend folgend weiter an Gewicht verlieren, bleibt in der Wahlkabine kaum ein anderes Entscheidungskriterium als die Personen, die auf den Listen oben stehen.

Nun hat Sigmar Gabriel mit seinem Doppelschachzug Steinmeier-Schulz die demoskopischen Realitäten gründlich verschoben. Von jetzt auf gleich ist eine gefühlt fast aus der Zeit gefallene Loser-Partei in Schlagweite zur Führungsrolle für die nächste Bundesregierung gelangt. Solch abrupte Veränderungen in der Demoskopie, Traum oder Albtraum jedes Wahlkämpfers, sind echte Ausnahmeerscheinungen.

Kopfsache – der Schulz-Effekt

Bemerkenswert: Der Umschwung kam nicht erst mit seiner Relativierung der Agenda-Reformen – er setzte unmittelbar ein. Martin Schulz verspricht, eine echte persönliche Alternative zur Angela Merkel zu werden, allein das hat offensichtlich ein latent brodelndes Bedürfnis in einem erheblichen Teil der Wählerschaft bedient. Der Dominanz der politisch korrekten Alternativlosigkeiten aus dem Nordosten steht nun ein kerniger Wessi-Kerl gegenüber. Mit Kanten und Konfliktbereitschaft, Dialekt, Bart und mit einer gebrochenen persönlichen Geschichte jenseits der Politik.

Die wichtigste Konsequenz: Aus dem befürchteten Kommunikationsszenario AfD gegen den Rest wird nun ein „normaler“ Wahlkampf rund um zwei Köpfe, die eine Bundesregierung führen könnten. AfD und Flüchtlinge als Themen werden bleiben, aber nicht alles andere dominieren.

Dabei leidet die FDP nicht erkennbar unter den rund sechs bis acht Prozentpunkten, die Schulz mal eben als dem Markt genommen hat. Die FDP profitiert von ihrer Position als „auch ein bisschen APO“ im Anti-Establishment-Sentiment, vor allem aber vom Kommunikationstalent ihres Vorsitzenden.

Aus dem befürchteten Kommunikationsszenario AfD gegen den Rest wird nun ein „normaler“ Wahlkampf rund um zwei Köpfe.

Ganz im Gegensatz zu den Grünen, deren interne Volksabstimmung nicht wirklich fesselnde Verbalzauberer zum Sieg führte. Die Union wiederum wird es sich im Wahlkampf nicht noch einmal leisten wollen, in die Beobachter-, Bewunderer- oder Opferrolle abzutauchen wie in den Martin-Schulz-Festwochen.

Mit spitzen Fingern zum Erfolg

Bei Rot-Grün gehört es traditionell zum guten Ton, der Personalisierung von Politik höchst misstrauisch zu begegnen. Man versteht sich ja als Programmparteien, nicht als Mehrheitsbeschaffer. Die Namen Brandt, Schmidt, Schröder und Fischer stehen für das Gegenteil, für den Beleg, das Mehrheiten jenseits der Konservativen nur mit starken Köpfen erreichbar wurden.

Bei alledem ist der größte Gewinner der letzten Wochen die repräsentative Demokratie. Wo Kopf A gegen Kopf B um Vertrauen wirbt, ist die Demokratie-Verballhornung „gegen die da oben“ passé.

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Jörg Ihlau
Jörg Ihlau, Dipl. Volkswirt, Jg. 1962, seit 2006 Geschäftsführer Serviceplan Public Opinion. Zuvor 1991 bis 1996 Bundesbauministerium, dann Geschäftsführer des Pleon-Hauptstadtbüros. Berät Verbände, Ministerien und öffentliche Institutionen.