Im Wahlkampf „muss man mit dem Wortschatz eines Kindergartens und mit der Grammatik eines Computers auskommen“ formulierte bereits 1987 der Schriftsteller und Publizist Hans-Magnus Enzenzberger gegenüber dem SPIEGEL. Er zeigte sich verblüfft darüber, „wie viele Nuancen die westdeutschen Wähler in dieser Stummelsprache ausdrücken können.“
Auf Kindergartenplätze gab es 1987 noch keinen Rechtsanspruch, Computer waren grobschlächtige Maschinen. Und das Wahlvolk, das am 22. September 2013 zur Urne gebeten wird, ist mittlerweile ein gesamtdeutsches. Trotzdem hat Enzensberger auch heute noch Recht: Wahlkampf ist wie Kindergarten!
Kindergärten sind Orte, an denen kleinen, schutzbedürftigen Menschlein die harten Wahrheiten des Lebens möglichst einfach und schonend vermittelt werden. Kindergärtnerinnen (und –gärtner, soweit es sie außerhalb von Berlin Prenzlauer Berg gibt) sind wichtige Bezugspersonen. Kinder lernen: vertraut ihnen, dann wird alles gut.
Die Oberkindergärtnerin im Wahlkampf ist Kanzlerin Angela Merkel. Ihre Message: Vertraut mir, alles wird gut. Im Interview mit CDU-TV spricht sie vom Respekt vor der Lebensleistung der Menschen, von Rahmenbedingungen, die stimmen müssen und von Stabilität, Wirtschaftswachstum und soliden Finanzen. Das wirkt: Seit Wochen liegen die Unionsparteien in Umfragen bei über 40 Prozent, ihre persönlichen Werte über 60 Prozent, auch wenn im Zuge der NSA-Diskussion das Vertrauen ein wenig leidet. Vertreter der Vertrauenspädagogik dürften begeistert sein, Theodor Adorno sich im Grabe umdrehen. Die Kanzlerin als Mutter der Nation: Mutti!
Der Abschied von Mutti kann schwerfallen, die damit verbundenen Verlustängste sind uns spätestens seit Sigmund Freuds bahnbrechenden Erkenntnissen bekannt. Verlustängste dürften auch Philipp Rösler, Rainer Brüderle und Konsorten verspüren. 6,5 Prozent maß Allensbach in der Sonntagsfrage vor zwei Wochen, Infratest Dimap am vergangenen Donnerstag nur noch vier.
Verlustangst führt zu Verunsicherung und Orientierungslosigkeit. Gleichzeitig zwingt sie den Verängstigten, sich quasi reflexartig an alten, bekannten Mustern festzuhalten. Seit Monaten sucht die FDP nach dem Weg, um beides zu schaffen: an Muttis Rockzipfel zu bleiben und gleichzeitig als selbständiger Draufgänger anzukommen. Datenschutz, Bürgerrechte, Europapolitik – man hält es hier mit Enzensberger, der Wortschatz reicht im Angesicht der thematischen Komplexität nicht aus. Ein Glück, dass die thüringische Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht die Fortführung des „Solis“ vorschlug. Endlich Steuern, endlich ein Thema, dass die FDP und ihre rhetorischen Fähigkeiten in Wallungen bringt.
Seit Katrin Göring-Eckardt etwas überraschend zur mitwirkenden Spitzenkandidatin der Grünen gewählt wurde, träumen die konservativ-ökologischen Liberalen dieser Nation (jene also, die Müll trennen, in Städten leben, Kinder haben, besser verdienen, Steuern zahlen, auf Märkten und bei Bio-Company einkaufen und manchmal auch selber Fair-Trade-Wolle verstricken) von einer schwarz-grünen Koalition. Das mag die grüne Stammwählerschaft gar nicht, und das wiederum mag Jürgen Trittin gar nicht. Und weil man von links (oder rechts, oder aus der Zukunft, oder aus dem Internet) auch noch von den gerade wieder erstarkenden Piraten getrieben wird, muss das etwas angestaubte Revoluzzer-Image aufgerüstet werden. Erfunden haben sie deswegen die aus den „Simpsons“ bekannt Nelson-Muntz-Attacke-Strategie und pöbeln mit Leidenschaft durch die wohlwollenden Medien. Mit zugespitzter Rhetorik bezichtigten sie zunächst der Kanzlerin, seit die eigenen Umfragewerte zurückgehen auch die restliche Bundesregierung: der Lüge, der Unverschämtheit, als Daunendecken oder Affen. In der Sozialpädagogik kennt man ein solches Verhalten von Kindern, die sich ungeliebt und zu wenig wahrgenommen fühlen. Vielleicht ist ihre verbale Gewalt auch nur ein stummer Schrei und sie wollen, frei nach den Ärzten, einfach nur von Mutti ein bisschen mehr Liebe. Und so strahlt auch ihr etwas hilflos wirkender Wahlkampf-Slogan „Und du?“ in einem neuen Licht. Und du, Mutti, magst du mich auch ein bisschen lieb haben?
Die SPD hat unter Mutti gelitten, wurde von ihr in der großen Koalition einfach überstrahlt. Man kennt das von Kindern, die Weltstars als Eltern haben. Alles was sie tun, wird immer am Erfolg der Eltern gemessen, immer stehen sie im Schatten. Weil ein Platz an der Sonne aber schöner ist, will sich die SPD abkapseln, es selber versuchen, besser machen. Alte Zöpfe (aka Agenda 2010) werden abgeschnitten. Aber nun sitzen sie da, in ihrer Ecke, und zanken wie die Kesselflicker. General Gabriel hatte es doch anders geplant und gönnt König Steinbrück die Kanzlerschaft nicht. König Steinbrück fremdelt wie eh und je mit seiner Partei und fordert mehr Beinfreiheit. Die aber kriegt er nicht, oder er nutzt sie fleißig, um sich selbst das Bein zu stellen. Die Schuld wird immer an die „technische Wahlkampfleitung“ geschoben, also das Willy-Brandt-Haus, also Andrea Nahles. Gerne würde die SPD über Inhalte sprechen. Einfachere als die Umbildung und Reformierung eines Sozialstaates. Gerne über Mindestlohn, gerne über Kitas. Und schimpfen macht Spaß: Die Regierungsparteien sind unsozial. Oder inkompetent. Aber dann redet die SPD sie doch immer wieder über sich selbst. Und ihren Kandidaten, der eigentlich auch gar nicht Kanzler werden soll. Letzte Woche wurde „Siggy“ mit diesem T-Shirt fotografiert. Ach, was war es bei Mutti doch schön!
Bleibt die Linke. Tja, die Linke. Die Schmuddelkinder. Da reden viele. Sieben Spitzenkandidaten haben sie. Vielleicht auch acht. Mit ihnen redet keiner, man lässt sie nicht mitspielen. Mutti kümmert sich nicht und „Siggy und Co“ sind immer noch sauer. Nicht auf die Linke an sich, aber auf Oskar Lafontaine. Der schweigt. Dafür hat Gregor Gysi ein Buch geschrieben. Für die Bestsellerlisten hat es noch nicht gereicht. Früher war alles besser. Da kümmerte sich ja auch wer anders um die Linke.
Was bleibt? Im Sommertheater einen kühlen Kopf bewahren, genug trinken (Wasser, Fruchtsäfte!) und darauf hoffen, dass dieser Wahlkampf doch noch ein wenig erwachsener wird. Aber bis dahin: Dürfen wir uns alle wie Kinder fühlen.
Isabelle Fischer
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