Der sperrige Begriff der „asymmetrischen Demobilisierung“ begleitet uns nun schon seit der Bundestagswahl 2009. Fachleute sind sich einig, dass die Union mit Hilfe dieser Strategie die damalige Bundestagswahl gewonnen hat. Durch die Vermeidung von Kontroversen im Wahlkampf und Abräumung von polarisierenden Themen durch Übernahme wurden der Gegner geschwächt. Die Wähler und Anhänger der SPD wurden demobilisiert. Nun sieht es so aus, dass die CDU/CSU auch in diesem Bundestagswahlkampf mit der nicht mehr ganz so geheimen Strategie die potentiellen Wähler ihre Konkurrenzparteien von der Wahlurne fern halten will. Mancher spottet im Moment damit, dass die SPD sich zurzeit in „asymmetrischer Mobilisierung“ übt.

Interessant scheint aber auch der Terminus der „symmetrischen Demobilisierung“. Prof. Dr. Gerd Mielke führte ihn bei einer Tagung zu den Wahlkampfstrategien 2013 in der Heinrich-Böll-Stiftung ein. Für ihn zeigen sich sowohl bei der SPD wie auch bei der CDU Mobilisierungsschwächen. Bei der Union seien diese auf die programmatischen Schwenks der Kanzlerin zurückzuführen. Mit dem Abrücken von zentralen Positionen, die noch vor einigen Jahren zum Kern der Identität der CDU/CSU gehörten, bestehe die Gefahr, dass die Union im Wahlkampf nicht mehr angreifen könne. Gleichzeitig blockiere sich das linke Lager durch den Ausschluss von Koalitionsmöglichkeiten. Mielke empfiehlt daher, dass die Parteien wieder an ihre traditionellen Themen anknüpfen. 

wahl.de: Herr Prof. Dr. Mielke, was verstehen Sie unter „symmetrischer Demobilisierung“?

Mielke: Der Begriff der „symmetrischen Demobilisierung“ soll eine leicht ironische Anspielung auf die viel zitierte Strategie der „asymmetrischen Mobilisierung“ der Unionsparteien aus dem Bundestagswahlkampf 2009 sein. Damals hatte die CDU/CSU einen Einschläferungswahlkampf geführt und alle polarisierenden Themen und Kontroversen im Wahlkampf sowie gezielte Attacken auf die Sozialdemokraten weitgehend vermieden. Unter dem Eindruck einer schwachen Polarisierung in der Großen Koalition, angesichts der wenig auf Konfrontation ausgerichteten Kandidatur Frank-Walter Steinmeiers und ohne jede auch nur halbwegs realistische Mehrheitsperspektive waren große Teile der potentiellen SPD-Anhängerschaft frustriert in die Wahlenthaltung abgetaucht.

Im Vergleich dazu konnte die Union ihre Anhänger recht gut mobilisieren: Die CDU/CSU hatte eine populäre Kanzlerin, sie konnte damit rechnen, wieder stärkste Partei zu werden, und vor allem konnte sie sich stark auf gebildete, wohlhabende und ländlich-katholische Wählerschichten stützen, und von diesen Schichten weiß die Wahlforschung, dass sie in aller Regel eine deutlich höhere Wahlbeteiligung an den Tag legen als die Anhänger der SPD.

„Die Union hat diesmal ziemliche Schwierigkeiten, ihre Anhänger auf die Beine zu bringen.“

Im gegenwärtigen Wahlkampf sind die Mobilisierungschancen für die SPD zwar ebenfalls nicht besonders gut, aber die Union hat diesmal ziemliche Schwierigkeiten, ihre Anhänger auf die Beine zu bringen. Mit den programmatischen Schwenks, die Frau Merkel in den letzten Jahren der CDU auferlegt hat, ist die Union einerseits bewusst näher an Rot-Grün herangerückt und hat scharfe Gegensätze abgebaut. Ich denke da etwa an den Atomausstieg oder den Ausstieg aus der Wehrpflicht und dem Ersatzdienst, aber auch die Änderungen im Frauen- und Familienbild oder auch an die Ansätze zur Festlegung von Mindestlöhnen.

Andrerseits aber hat die CDU dabei eben auch Positionen geräumt, mit denen sich der aktive Kern der Partei und die Stammwähler über lange Jahre hinweg identifiziert hatten und für die sie kämpferisch eingetreten sind. Für die CDU ist es jetzt viel schwieriger, ihre Anhänger auf das christdemokratische Große und Ganze einzuschwören, denn dieses Große und Ganze gibt es gar nicht mehr. Deshalb ist zu erwarten, dass beide großen Parteien erhebliche Mobilisierungsprobleme haben werden. Wir werden wohl in diesem Sinne eine symmetrische Demobilisierung, also frustriertes und gelangweiltes Ausblenden aus dem Wahlkampf erleben.

Die Union räumte ihre Kernpositionen ab

wahl.de: Worin besteht die Abgrenzung zur „asymmetrischen Mobilisierung“?

Mielke: Im Bundestagswahlkampf 2009 konnte man auf der Unionsseite noch davon ausgehen, dass die eigene Anhängerschaft mit ihrer traditionell stärkeren Wahlbereitschaft auch in einem Wahlkampf ohne besondere Zuspitzung und Polarisierung für die Unionsparteien an die Urnen strömen würde; denn all die klassischen Unionspositionen – Atom, Frauen und Familie, Bundeswehr, Skepsis gegen Zuwanderung und so fort – gehörten ja noch zum Kern der  politischen Identität der CDU/CSU. Aber das ist in den letzten vier Jahren ja alles von Frau Merkel weitgehend weggeräumt worden.

Wähler kann man nicht „einfach so“ mobilisieren. Dies gelingt nur dann, wenn die Anhänger den Eindruck gewinnen, dass es auch wirklich um etwas Wichtiges, um einen Teil der politischen Identität der jeweiligen Partei geht. Deshalb kommt mir die Strategie, die Frau Merkel in vielen Medienkommentaren immer voller Bewunderung unterstellt wird, sie würde sich durch freiwilliges Abrücken von zentralen Positionen der CDU gewissermaßen unangreifbar machen, durchaus fragwürdig vor. Diese Strategie kann auch dazu führen, dass eine Partei im Wahlkampf buchstäblich verwelkt und selbst auch nicht mehr angreifen kann.

„Die Stärke der CDU liegt an der ebenfalls anhaltenden Schwäche der SPD und an der Zersplitterung des linken Lagers.“

 wahl.de: Wird Frau Merkel mit Ihrer Strategie der asymmetrischen Demobilisierung also nicht mehr den erhofften Erfolg haben?

Mielke: Wenn wir auf die Landtagswahlen in den letzten Jahren schauen, dann sehen wir, dass die CDU immer wieder massive Mobilisierungsprobleme hatte, und das im Übrigen trotz einer sehr großen Popularität und trotz intensiven Engagements der Kanzlerin in diesen Landtagswahlkampagnen. Das war in Nordrhein-Westfalen so, in Baden-Württemberg, in Niedersachsen. Nun kann man den politischen Kontext, in dem all diese Landtagswahlen angesiedelt waren, nicht einfach auf die anstehende Bundestagswahl übertragen. Aber diese Mobilisierungsschwäche gerade der großen Partei, deren Anhänger immer treu zur Wahl gegangen sind, diese Schwäche ist schon auffällig – zumal ja bei den meisten Landtagswahlen die CDU immer noch erheblich von der schlechten Verfassung der FDP profitiert hatte.

Wenn die Chancen der Union bei der anstehenden Bundestagswahl dennoch aussichtsreich sind, als stärkste Partei auch weiterhin die Bundesregierung zu führen, dann liegt dies vor allem an der ebenfalls anhaltenden Schwäche der SPD und an der Zersplitterung des linken Lagers. Wenn das Oppositionslager aus SPD, Grünen und Linken seit vielen Jahren regelmäßig heilige Eide schwört, die sieben oder acht Prozent der Linken auf keinen Fall in ein gesamtoppositionelles Koalitionskalkül gegen die schwarz-gelbe Bundesregierung einzubeziehen, dann ist das die wirksamste Garantie für eine Fortsetzung der Führungsrolle der CDU auf Bundesebene. Unter diesen Umständen kann also speziell Frau Merkel der Wahl mit Gelassenheit entgegensehen.

Modernisierung als Ursache für Demobiliserung

wahl.de: Woher kommen Ihrer Meinung nach generell die Mobilisierungsschwächen der zwei Volksparteien?

Mielke: Ganz offensichtlich haben beide Volksparteien die Risiken und Folgen dessen falsch eingeschätzt, was sie als Modernisierung zu bezeichnen pflegen. Mit dem Umbau und Abbau des bundesrepublikanischen Wohlfahrtsstaats, den sowohl die SPD unter Gerhard Schröder als die Union unter Angela Merkel vollzogen haben und immer noch vollziehen, sind die beiden Volksparteien aus dem bedeutsamsten und stärksten Konsensfeld der deutschen politischen Kultur herausgewandert. Die Deutschen sind eine Gesellschaft, die ganz stark auf eine staatlich gesicherte Wohlfahrtspolitik ausgerichtet war und die deutsche Vereinigung hat diese Ausrichtung noch einmal spürbar verstärkt. Man kann das begrüßen oder kritisieren, aber man sollte es in jedem Fall genau im Auge haben. Vor diesem Hintergrund erscheinen gegenwärtige Probleme wie Altersarmut, das Auseinanderklaffen von Arm und Reich oder die sich abzeichnende Pflegemisere weiten Teilen der Wählerschaft als tief greifende Traditions- und Systembrüche. Sie  führen zu einer Entfremdung von den beiden Parteien, die ja zusammen zwischen 1950 und 1990 diesen hoch verehrten Wohlfahrtsstaat aufgebaut haben. Im Übrigen ist durchaus bezeichnend, dass die Grünen, die sich ja durchaus in einem anhaltenden Aufschwung befinden, die einzige Partei sind, denen eine stramme „Modernisierung“ im Sinne einer Abkehr von ihren ökologischen Traditionen bislang erspart geblieben ist.

wahl.de: Welche Strategie würden sie den beiden Volksparteien empfehlen?

Mielke: Grundsätzlich scheinen mir die Strategien sinnvoll, die bewusst an die jeweiligen Parteitraditionen anknüpfen und dann versuchen, diese in die Gegenwart und Zukunft zu verlängern. Zahlreiche Wahlkampfexperten plädieren hingegen für eine radikale Zukunftsorientierung der Parteien und wollen damit den Parteien eine weitgehende Abkehr von ihrer Geschichte und der Erinnerung daran schmackhaft machen. Das ist nach meiner Einschätzung eher ein riskantes Unterfangen; denn dabei wird übersehen, dass noch immer fast zwei Drittel der Wähler in Deutschland über eine langfristige Bindung an die Parteien verfügen und die gerade ablaufenden Wahlkämpfe natürlich in ihre langjährigen Erfahrungen einordnen. Von daher habe ich den Eindruck, dass die Anlage der SPD-Kampagne mit ihrer Ausrichtung auf soziale Gerechtigkeit als Kernthema sozialdemokratischer Politik richtig ist. Bei der Union kann ich bislang eine Hinwendung zu den Parteitraditionen nicht erkennen; nach meiner Einschätzung ist das also eine riskante strategische Entscheidung.

Die Indikatoren sprechen dafür, dass die weitaus meisten Wählerinnen und Wähler nach wie vor in politischen Lagern denken.

wahl.de: Ist der Lagerwahlkampf überhaupt noch zeitgemäß?

Mielke: Auch im Blick auf den Lagerwahlkampf scheiden sich ja bekanntlich die Geister. Es gibt viele Wahlkampfexperten, die von einer weitgehend frei schwebenden Wählerschaft ausgehen, die mal hierhin und mal dorthin tendiert und das Lagerdenken als überholt ansieht. Wenn man sich allerdings die vorliegende Daten und Forschungsergebnisse ansieht, dann spricht vieles für eine nach wie vor eindeutige Lagerstruktur. Wählerwanderungsbilanzen, das so genannte Stimmensplitting, die Verteilung von Koalitionspräferenzen: All diese Indikatoren sprechen dafür, dass die weitaus meisten Wählerinnen und Wähler nach wie vor in politischen Lagern denken.

Das ist ja im Übrigen nicht nur in Deutschland so, sondern auch in nahezu allen anderen europäischen Ländern. Das speziell deutsche Problem liegt allerdings darin, dass zwar die Wählerschaft sich problemlos nach Lagern einteilen lässt, dass jedoch auf der Ebene der Parteieliten das oben schon angesprochene Problem eines unverkrampften Umgangs mit der Linken alles andere überdeckt. So haben wir die eigenartige Situation, dass sich Union und FDP ganz problemlos zusammenfinden und auch immer wieder selbst als bürgerliches Lager empfinden wollen, dass wir aber auf der anderen Seite einem „defekten Lager“ auf der Linken gegenüber stehen. Es bleibt abzuwarten, ob sich diese eigenartige Konstellation in den nächsten Monaten und Jahren überleben wird. Wenn sich das linke Lager als solches begreift, dann kann ganz plötzlich ein Regierungs- und auch ein Kanzlerwechsel in den Bereich des möglichen rutschen.

Das Interview führte Sebastian Schmidtsdorf.

Sir Prof. Dr. Gerd Mielke ist Politikwissenschaftler und Honorarprofessor für Landespolitik am Institut für Politikwissenschaft der Universität Mainz und ehemaliger Mitarbeiter der Staatskanzlei Rheinland-Pfalz in Mainz unter den Ministerpräsidenten Rudolf Scharping und Kurt Beck.

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Sebastian Schmidtsdorf

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Head of PR bei Civey
Bei wahl.de seit 2013. Mitherausgeber wahl.de-Buch #BTW13 Themen, Tools und Wahlkampf. Leiter Redaktion und Öffentlichkeitsarbeit bei Civey. Leidenschaftliche "fragerei by dorfgeschrei".
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