Wäre die EU ein Fußballteam, sie würde keinen Blumentopf gewinnen. Da stünde eine Mannschaft mit weltklasse Potenzial, aber ohne Teamgeist und zerfurcht von den Starallüren und der Stursinnigkeit der Einzelspieler. Es gäbe Offensivspitzen wie Ungarn, Polen und Tschechien, die die Steilpässe aus dem Rückraum immer gerne annehmen, denen es aber im Traum nicht einfallen würde, bei Gegenangriff nach hinten mitzuarbeiten. Oder den stoischen 6er Deutschland, der spielerisch den Takt angibt, aber auch immer wieder Spielzüge in Eigenregie entwickelt und sie der Mannschaft aufzwingt. Und dann wäre da noch die Defensive, die aus den griechischen Außen- und den italienischen Innenverteidigern besteht. Geplagt von zu langen Einsatzzeiten erlahmen sie allmählich, bei jedem Spiel bitten sie die Vordermänner um Unterstützung. Doch die warten lieber auf den nächsten langen Ball. 

„Wir sind in einer Notsituation!“

Paolo Gentiloni

Die Metapher hinkt, denkt sich der Fußballkenner, aber eingängig ist sie. Und auch als Überleitung gut zu gebrauchen. Man stelle sich nämlich vor, dass die italienische Innenverteidigung irgendwann, dem Kreuzbandriss nahe, das Remonstrieren anfängt. So ähnlich lief es letzte Woche ab, im Vorfeld zur politischen Bedeutungswoche in Hamburg (G20), Tallinn (Innenministerkonferenz), Rom (Migrationskonferenz). Da erklärte der italienische Ministerpräsident, Paolo Gentiloni, man könne einfach nicht mehr. Und um die Ernsthaftigkeit der Lage zu unterstreichen, kündigte er an, man werde Schiffen ausländischer Hilfsorganisationen die Einfahrt in italienische Häfen verwehren, wenn sich nicht auch die anderen Mitgliedstaaten langsam an der vorgeschriebenen Lastenverteilung beteiligen.
Kurz vor der Konferenz in Tallinn lieferte Innenminister Marco Minniti gleich noch eine Handlungsempfehlung: Wie wäre es, wenn auch andere Staaten ihre Häfen für die Rettungsschiffe öffnen?

Solidarität? Nein, danke!

Da hat Italien aber die Rechnung ohne sein Team gemacht. Die aufgebrachten Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. „Das unterstützen wir nicht“, heißt es von Thomas de Maizière. Auch Frankreich meint: „Der Innenminister hat mit Nein geantwortet. Wir wollen das nicht machen.“ In Spanien begründet man die Absage mit der ohnehin schon großen Auslastung der Häfen durch Migration aus Westafrika. Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn hält es humanitärer und meint: „Wenn ein Schiff kommt mit Menschen an Bord, die leiden, sehe ich schwer ein, dass man dann sagt, das Schiff soll Tausend Meilen weiterfahren“, während der niederländische Justizminister strategische Zweifel äußert: „Nur die Öffnung von mehr Häfen allein wird das Problem nicht lösen“. Aufs Ganze geht Österreichs Außenminister Sebastian Kurz. Der 30-jährige Anwärter aufs Kanzleramt hält es im Wahljahr gerne zackig und ordert sogleich das Bundesheer zum Grenzschutz auf den Brenner, Panzer inklusive. Oh Freude, schöner Götterfunken…

Nun gut, einige Zugeständnisse gab es. Deutschland beispielsweise will sein Kontingent aufstocken, von 500 auf 750 Flüchtlinge im Monat, die es im Zuge der Umverteilung aufnimmt. Wenn nur nicht schon der derzeitige Umverteilungsprozess mehr als stockend laufen würde. Dazu schickt die EU Frontex-Personal zur maritimen Unterstützung und natürlich gibt es Geld. 35 Millionen Euro Soforthilfe hat man Rom zugesichert. Das kommt zwar nicht ganz an die 6 Milliarden ran, die die Türkei für ihren Flüchtlingsdeal kassiert, aber die groben Löcher könnte es stopfen.

Kurzfristig ist Italien jedoch erst einmal auf sich alleine gestellt. Die EU-Staaten werden nicht wie bekehrt plötzlich die abgemachte Umverteilung beschleunigen und die Migranten werden nicht einfach ihre Vorstellungen auf ein besseres Leben in Europa aufgeben und daheim bleiben. Die Statistik lügt nicht: Rund 90.000 Schutzsuchende sind dieses Jahr bereits von Libyen nach Italien geflohen, spürbar mehr als im Vorjahr; die Schätzungen für die Bilanz am Ende des Jahres belaufen sich auf 200.000 Migranten.
Und nicht nur bei der Aufnahme, auch bei der Rettung von in Seenot geratenen Flüchtlingen macht die EU eine miese Figur. Der Großteil der Geretteten verdankt ihr Leben privaten Rettern wie den NGOs Sea-Watch oder Jugend Rettet. Doch genau da liegt Italiens Problem: Die retten zu viele. Oder weniger zynisch ausgedrückt: Durch die Aktivität der NGOs vor der libyschen Küste fühlen sich Schlepper dazu ermutigt, noch schneller noch mehr Boote abzusetzen. Der Fakt hat schon einige Kontroversen ausgelöst. Welche Tendenzen solche Diskussionen schnell annehmen können, zeigt dieser Satz von Thomas de Maizière „Wenn Schiffe im libyschen Gewässer ihre Scheinwerfer anschalten und genau in dem Moment werden auch Flüchtlinge losgeschickt, dann ist das das Gegenteil von ,Schleusern das Handwerk legen‘ – und das soll in Zukunft nicht mehr stattfinden.“ 

Du sollst nicht Leben retten

Jedenfalls haben die italienischen Verantwortlichen nun ihren ganz eigenen Ansatz zum kurzfristigen Auskontern der Migrationsströme entwickelt. In Tallinn präsentierte man den Innenministern der EU-Staaten einen Verhaltenskodex für ausländische NGOs und andere private Retter. Dieser Kodex fasst in elf Punkten zusammen, was Rettungsschiffe, die nicht unter italienischer Flagge fahren, zu tun bzw. zu unterlassen haben:

1. „Absolutes Verbot für NGOs, in libysche Gewässer einzufahren“
– außer es besteht „Gefahr im Verzug für menschliches Leben auf
See“. 

2. Transponder zur Ortung der Rettungsschiffe dürfen nicht
abgeschaltet werden.

3. Nicht erlaubt sind Telefongespräche oder die Aussendung von
Lichtsignalen, die eine Abreise von Booten mit Flüchtlingen von der
libyschen Küste erleichtern. Kontakte mit Schleppern sollen so
unterbunden werden.

4. Außer in Notsituationen dürfen keine geretteten Flüchtlinge an
andere Boote übergeben werden. Die Hilfsorganisationen werden
verpflichtet, die Geretteten selbst in den nächsten „sicheren Hafen“
zu bringen und nicht an Schiffe der italienischen Küstenwache oder
von internationalen Einsätzen abzugeben.

5. Such- und Rettungsaktionen der libyschen Küstenwache dürfen
nicht behindert werden.

6. Vertreter der Polizei, die Ermittlungen im Zusammenhang mit
Schleusernetzwerken führen, müssen an Bord gelassen werden.

7. Die Finanzierung der Seenotrettung muss offengelegt werden.

8. Die Seenotrettungszentren der Staaten, unter deren Flagge die
NGO-Schiffe fahren, müssen über Rettungseinsätze informiert werden, damit diese „die Verantwortung für Zwecke der Meeressicherheit übernehmen können“.

9. Eine Bescheinigung muss vorliegen, welche „die technische
Eignung für Rettungsaktivitäten“ belegt – wie sie auch normale
italienische und Handelsschiffe benötigen. Zudem auch Zertifikate
des Flaggenstaates, die über die Einhaltung der nach den
Terroranschlägen vom 11. September 2001 einführten Regeln zur
Gefahrenabwehr auf See und in Häfen hinausgehen.

10. Zusicherung der Zusammenarbeit mit staatlichen
Sicherheitsbehörden bei der Anlandung von Migranten. Die NGO-Schiffe müssen den Behörden dabei „mindestens zwei Stunden vor Erreichen des Hafens“ nach einer Rettungsaktion übliche Dokumente übermitteln, darunter solche zum Ablauf des Einsatzes und zur gesundheitlichen Situation der Geretteten.

11. Übermittlung aller Informationen, die für Ermittlungen der
italienischen Polizei wichtig sein könnten, sowie die Übergabe
„jeglichen Objektes, das Nachweis oder Beweis einer illegalen
Handlung sein könnte“.

Wer sich darauf nicht verständigen kann, dem bleibt, wie angekündigt, die Einfahrt in italienische Häfen verwehrt. In Tallinn gibt man Italien dafür grünes Licht.

Outgesourct: Grenzschutz 2.0

So viel zur Innenpolitik. Schneller als in Tallinn kam man jedoch in Rom auf einen grünen Zweig, wo derzeit eine Reihe europäischer Außenpolitiker zusammen mit Vertretern afrikanischer Transitstaaten eine ausgelagerte Migrationspolitik bespricht. Alles, was jenseits der europäischen Außengrenzen passiert, ist ja auch irgendwo konsensfähig. Mit Vertretern der Europäischen Union, der Internationalen Organisation für Migration und des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen verabschiedete man eine gemeinsame Erklärung. Man wolle entsprechenden afrikanischen Ländern finanzielle Hilfe leisten, damit die Flüchtlinge Europa gar nicht erst nicht erreichen.

Die Ziele heißen unter anderem: „Maßnahmenförderung zur freiwilligen Rückkehr“ und „Unterstützung lokaler Entwicklungsinitiativen“. Das bedeutet zum Beispiel, Flüchtlingen in Libyen Geld anzubieten, wenn sie damit wieder in ihre Heimatländer zurückkehren. Oder die südlichen Grenzen des Landes zu sichern, damit Flüchtende gar nicht erst nach Libyen hineinkommen. Oder das von der EU dort unten seit längerem geplante Seenotrettungszentrum zu errichten. Flüchtlinge sollen dort ihren Asylantrag stellen können und müssen dazu nicht erst die gefährliche Mittelmeerüberquerung auf sich nehmen, ist die Vorstellung.
Franziska Brantner, Bundestagsabgeordnete der Grünen, nennt das „Zynismus pur“. Zurecht. Wie soll in einem Postbürgerkriegsland wie Libyen eine Massensammelstelle für Flüchtlinge gebaut, geschweige denn verwaltet werden? Bereits vor einiger Zeit vertrieben islamistische Rebellen die international anerkannte Einheitsregierung aus Tripolis, unlängst eroberten sie die lang umkämpfte Hafenstadt Bengasi. Sie gilt als wichtiger strategischer Angelpunkt, nicht zuletzt, weil von hier aus 2011 die Revolution gegen Diktator Gaddafi startete.

Nein, Geld braucht das reichste nordafrikanische Land nicht, dafür gibt es dort genug Öl, genug andere Rohstoffvorkommen. Frieden, Stabilität, eine gemäßigte Regierung und Zeit, die eigene Notlage in den Griff zu kriegen, das wären willkommene Gäste. Doch von solchen Standards ist Libyen weit entfernt. Das erklärt vielleicht auch, warum die libysche Küstenwache momentan keine Zeit für solche Belange wie Menschenrechte hat. Der letzte Report der Vereinten Nationen ist enthält schockierende Feststellungen:

Es wurden weitgehende Misshandlungen von Migranten gemeldet, einschließlich Hinrichtungen, Folter sowie der Entzug von Nahrung, Wasser und Zugang zu sanitären Anlagen. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) berichtete auch über die Versklavung von Migranten aus der Subsahara. Schmuggler, wie auch die Abteilung zur Bekämpfung irregulärer Migration* und die Küstenwache sind direkt involviert in solche schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen.

*(DCIM, dem libyschen Innenministerium unterstellt, A.d.R.)

Der europäische Geist

Das alles scheint die Europäische Union allerdings nicht dazu zu bewegen, von ihren Plänen abzusehen. Aber kein Wunder, was wären schon ihre Alternativen? Alle Flüchtlinge aufnehmen und händisch verteilen, bis ein fairer Schlüssel erreicht ist? Dazu hat Brüssel nicht die nötigen Befugnisse respektive die Souveränität. Die Mitgliedstaaten wiederholt dazu auffordern, sich an den Deal zu halten? Und wenn nicht? Die Außengrenzen vollständig dicht machen? Sympathien aus der ein oder anderen Ecke wären der Union sicher. Aber ob es das wert ist, die vielbeschworenen humanistischen Ideale, auf denen die wacklige Festung Europa gebaut ist, vollständig aufzugeben?
Also bleibt nichts weiter, als beständig mit unausgereiften Taktiken zu reagieren, anstatt eine gemeinsame Strategie zu fahren. Schade, denn es wäre eine Gelegenheit, sich und der Welt zu beweisen, dass die EU keine reine Wirtschaftsunion, dass die Solidargemeinschaft keine Erfindung der europäischen Finanzminister, dass der uns allen verliehene Friedensnobelpreis keine Farce ist, sondern eine sich letztendlich selbst erfüllende Prophezeihung. Aber das geht nur als Team. Und das lebt, wie gesagt, von Teamgeist.

 

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Louis Koch

Louis Koch

Redakteur bei appstretto
Louis studiert Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste Berlin. Er hat Spaß am Texten und Konzipieren, vor allem, wenn es um Politik geht. Bei appstretto ist er als Redakteur unter anderem für die Inhalte von wahl.de zuständig.
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