Nur selten sah man in den letzten vier Jahren etwas von dem bissigen kämpferischen Naturell, das man Andrea Nahles im politischen Berlin zuschreibt. Es war eher eine Aura der Diesigkeit, die die Arbeitsministerin umgab, wenn sie über so elementare wie schwerfällige Themen wie das Rentenniveau redete. Manche Kolumnisten nahmen die Stagnation in Nahles‘ Ressort zum Anlass, mit dem Pinsel der Rentendebatte auch die Person und die Partei dahinter zu zeichnen: Ineffektiv, harmlos und irgendwie nicht ganz koscher.

Nun wurde Andrea Nahles am vergangenen Mittwoch zur Fraktionschefin gewählt. Über 90 Prozent der Mitglieder befanden sie für geeignet, die gebeutelte Partei in den nächsten Bundestag zu führen. Sollte die SPD wie angekündigt in die Opposition gehen, wäre Nahles als Vorsitzende der größten Oppositionspartei automatisch Oppositionsführerin. Die gleich eine „sehr leidenschaftliche, sehr intensive“ Oppositionsarbeit.

Zuallererst aber führt sie ihr Aktionismus aufs Glatteis. In der letzten gemeinsamen Kabinettssitzung von Union und SPD stichelt Energieminister Gerd Müller (CDU) scherzhaft, ob die scheidende Arbeitsministerin schon wehmütig sei, dass jetzt Schluss ist. Worauf diese entgegnet: „Klar, noch genau 20 Minuten. Und danach gibt’s auf die Fresse.“ Als sie den Wortlaut vor der Kamera noch einmal wiederholte, war die Situationskomik dahin, und Andrea Nahles stand doof da.

Mehr Fokus auf innere Sicherheit und Flüchtlingspolitik

Es wirkt, als sei mit der neuen Verantwortung auch eine Angriffslust zu Frau Nahles zurückgekehrt. Zackig rüttelt sie an den Fundamenten der Partei und scheint mit der Umstrukturierung keine Zeit verlieren zu wollen. Während im Wahlkampf das Schulz’sche Mantra der sozialen Gerechtigkeit alles unter sich bündelte wie ein nostalgischer Regenschirm, setzt Andrea Nahles nach der Wahlpleite andere Akzente. Im Spiegel appelliert sie an die eigene Partei, die innere Sicherheit stärker in den Fokus zu nehmen und die den Problemen in der Flüchtlingspolitik konkreter zu begegnen.

„Soziale Gerechtigkeit ist der politische Kern der Sozialdemokratie. Aber wenn die SPD Volkspartei sein will, muss sie bei anderen Themen ebenfalls Präsenz zeigen“

Sie spricht von Regeln, von harten Konsequenzen und von im Zweifel nötigen Grenzschließungen. Ein Staat müsse auch in der Lage sein, ein Staat zu sein. Dabei hütet sich die Fraktionschefin, nationalistische Assoziationen aufkommen zu lassen; einen solchen Punkt könne man nur europäisch lösen.
Dieser Wegweiser könnte in der zukünftigen Opposition sogar am linken Ende Freunde finden. Denn erst wenige Tage zuvor hatte sich Oskar Lafontaine wiederholt mit ähnlich scharfen Worten in die Debatte eingebracht. Er sprach von Konkurrenz im Lohn- und Wohnsektor und forderte nicht das erste Mal konsequente Abschiebungen. In der eigenen Partei stießen Lafontaines Äußerungen auf heftige Kritik.

Nun sag, wie hast du’s mit der Linken?

Ob die Linken und die Sozialdemokraten gerade über die Flüchtlingspolitik zusammenkommen werden? Unwahrscheinlich. Tatsächlich aber findet Frau Nahles eine Entgegnung auf die Gretchenfrage, die zu beantworten sich Martin Schulz im Wahlkampf noch gescheut hatte. Man müsse sich über eine gemeinsame Verantwortung für die Demokratie verständigen, „auf die ein oder andere Weise”.
Natürlich erfordere dies auch ein gewisses Entgegenkommen von der Linkspartei. Diese habe in der Vergangenheit anstelle von politischer Verantwortung zu oft mit dem Geschäftsmodell Anti-SPD Politik gemacht.

Für die SPD ist die Annäherung an die Linken auch aus der Notwendigkeit heraus geboren. Denn die Geschlossenheit, mit der die links-grüne Opposition in den letzten vier Jahren überwiegend agierte, dürfte bald der Vergangenheit angehören. Sollte die Jamaika-Koalition das exklusive Regierungsbündnis werden, stellt die AfD die zweitgrößte Oppositionspartei. Dann gilt es für die Opposition die Dissonanzen auszuhalten, die die beiden Extremparteien mit sich bringen werden. Da lohnt es sich für die Sozialdemokraten, sich schon jetzt darüber Gedanken zu machen, wie man ein so unwahrscheinliches Team zur Kooperation bewegt. Dass der erste Drive eher nach links- als nach rechtsaußen geht, erscheint logisch.

Fundamental neue Wege gehen

Wenn es um die Aufarbeitung der Wahlniederlage geht, schaut die Fraktionschefin auch mit Argusaugen auf die Fehler in der eigenen Partei – und nimmt sogar das Wort Kapitalismuskritik in den Mund.  „Wir haben es versäumt, die negativen Seiten der Globalisierung zu thematisieren“, sagte sie. „Die SPD muss wieder lernen, den Kapitalismus zu verstehen und, wo nötig, scharf zu kritisieren.“ Dazu sei es nötig, die eigene Programmatik kritischer infrage zu stellen, als man es in den letzten 20 Jahren je getan habe. 

Eines scheint in den wirren Tagen nach der Wahl also doch schon sicher: Andrea Nahles wird beim großen Identitäts-Lego der SPD eine Architektenrolle zukommen. Ob sie es gemeinsam mit Martin Schulz schafft, die SPD über den Oppositionsweg zurück ins Machtzentrum zu führen oder ob sie sich in der Opposition verliert, wird sich zeigen.

 

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Louis Koch

Louis Koch

Redakteur bei appstretto
Louis studiert Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste Berlin. Er hat Spaß am Texten und Konzipieren, vor allem, wenn es um Politik geht. Bei appstretto ist er als Redakteur unter anderem für die Inhalte von wahl.de zuständig.
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