Die SPD und die Ehe für alle, das erinnerte mich in den letzten Jahren immer an meine kindliche Faszination für Korkenzieher: Man dreht und dreht eine Spirale, die Augen auf einen Punkt fixiert, und man meint, diesen Punkt sich bewegen zu sehen, aber er kommt nie wirklich an. Bis es heute plötzlich „plopp“ machte und die Eilmeldungen auf allen Kanälen funkten: Die Partei will eine Abstimmung im Bundestag, und zwar noch diese Woche. Zack, fertig. Mit Nachdruck jedenfalls versicherten Kanzlerkandidat Schulz und Fraktionschef Oppermann, man biete der Union an, sich der Sache gemeinsam zu widmen, werde sich aber notfalls auch gegen den Koalitionspartner stellen.

Überraschend, so kurz vor der Wahl, aber zeitlich tatsächlich günstig. Den Stein ins Rollen gebracht hatte ausgerechnet die Bundeskanzlerin, die am Vorabend der SPD-Forderung auf dem Live-Talk eines Frauenmagazins mit einem Satz die ganze christdemokratische Blockade aushebelte:

„Ich möchte gerne die Diskussion mehr in die Situation führen, dass es eher in Richtung einer Gewissensentscheidung ist, als dass ich jetzt hier per Mehrheitsbeschluss irgendwas durchpauke.“

Eine Absage an den Fraktionszwang also, jeder nach seinem Gewissen und am Ende ist trotzdem klar, wie es ausgeht. Schließlich hatte sich Merkel überhaupt nur dahingehend äußern müssen, nachdem die drei möglichen Koalitionspartner Rot, Gelb und Grün in den letzten Tagen die Ehe für alle als unverhandelbare Bedingung aufgestellt hatten. Und damit endlich festgelegt, was im Volk anscheinend eh schon länger common sense ist.

Die Chance zum Ausgleich für die SPD. Da hat sich eine Tür einen Spalt weit geöffnet und bevor sie sich wieder schließt, stellt man den Fuß der Gerechtigkeit hinein und drückt sich durch, we’re going in. Und riskiert nach all‘ den zahllosen Vorwürfen der Charakterschwäche endlich Mal was bei der Thematik. Ein Charaktersieg, eigentlich. Und trotzdem lässt sich dieses eine Gefühl nicht abschütteln, dass die SPD selbst mit den klarsten Forderungen nicht wirklich weiß, was sie gerade macht. Das liegt auch an ihrem bisherigen Umgang mit der Ehe für alle.

My own private Waterloo

Die jüngere Geschichte beginnt im Jahr 2013, genauer gesagt nach der letzten Bundestagswahl. Die FDP war gerade von der Regierung in die Versenkung verschwunden und machte aus dem Bundestag ein Vier-Parteien-Parlament, dessen Sitze knapp zur Hälfte der Union zufielen. Außerdem feierte die Agenda 2010 ihr erstes rundes Jubiläum und erinnerte die Deutschen im Wahljahr an die Sinnkrise der Sozialdemokratie. Kurzum, mit der SPD war eigentlich kein Staat zu machen, aber angesichts der gegebenen Lage war die Koalition zumindest für die Gewinnerseite schnell beschlossene Sache. Nun oblag es der SPD als Juniorpartner, die eine oder andere Forderung in den Koalitionsvertrag mit einzuschleusen. Zum Beispiel diese:

Wir werden darauf hinwirken, dass bestehende Diskriminierungen von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften und von Menschen auf Grund ihrer sexuellen Identität in allen gesellschaftlichen Bereichen beendet werden. Rechtliche Regelungen, die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften schlechter stellen, werden wir beseitigen.

Das hatte die Union damals tatsächlich so unterschrieben. Klingt erst einmal nach Umsetzung des roten Wahlversprechens „100 Prozent Gleichstellung nur mit uns“. Tatsächlich war das aber der Anfang einer Auseinandersetzung, die die SPD in der Legislatur noch viele Nerven kosten sollte.
Da gibt es zum Beispiel den Gesetzesentwurf des Bundesrats, eingebracht von Rheinland-Pfalz, bejaht von 9 von 16 Bundesländern. Parallel dazu die Mahnungen der Opposition, warum die Koalition das Thema im Rechtsausschuss immer und immer wieder von der Tagesordnung abbestellt. Die ersten harschen Worte innerhalb der Koalition. Heiko Maas, der die Ehe für alle als „schwer realisierbar“ bezeichnet. Heiko Maas, der die Ehe für alle zwei Jahre später zur Grundlage für Koalitionsverhandlungen erklärt. Thomas Oppermann, der im Vorfeld des Wahlkampfes 2017 verspricht, das Thema auf dem nächsten Koalitionsgipfel aus der Sonntagsrede in die konkrete Politik zu bugsieren. Thomas Oppermann, der wenige Tage danach resigniert zugeben muss: „Ich glaube mit der Union ist nicht mehr viel zu machen.“
Und zwischendurch Lars Castellucci, dem irgendwo irgendwann auf dem Weg seine Begeisterung fürs Rechtfertigen abhanden gekommen war.

Die Ehe für alle, die Tantalusqual, das seitdem an den Sozialdemokraten nagt. Weil die Union sie hinhält. Weil es einfacher schien, als es war. Weil man will, aber nicht kann, und der Versuch, den Wählern das zu zeigen, nur noch mehr Unmut schürt. Weil man sich mit endgültigen Forderungen in der SPD prinzipiell entweder schwertut oder überhastet.
Bis Martin Schulz dann endlich Mal für klare Ansagen sorgte. Im Mai dieses Jahres. Als er dem LGBT-Magazin „Siegessäule“ im Interview versicherte: Keine Ehe für alle in dieser Legislaturperiode! (hier zusammengefasst von queer.de). Mit der Begründung:

„CDU und CSU lehnen die Ehe für alle ab, und in einer Koalition kann man keine Politik gegen den Koalitionspartner machen.“

Wer bin ich und wenn ja, wie viele

Ja, das war ziemlich genau einen Monat, bevor derselbe Schulz das Gegenteil ausrief. Und nun das. Plötzlich kommt sie wieder zum Vorschein, diese markige, kernige Seite der SPD. Wir machen das Ding und wir machen es jetzt, diese Woche, mit oder ohne euch. Applaus, Verwunderung, Überraschungsmoment, eigentlich Gabriel-Style.
Und ja, das wird vielleicht wieder ein paar Prozentpunkte in die Kassen spülen, ein Wahlversprechen nochmal durchgebracht, kurz vor der Wahl. Aber diese zupackende Art, sie unterstreicht auch die schizophrene Diagnose der Partei. Das ewige hin und her, vor und zurück, das schwächt die SPD und es schwächt sie umso mehr, je stärker sie in die Extreme geht.

Vielleicht schon seit dem Kosovo, spätestens aber seit Kabinett Schröder II, ringt die Sozialdemokratie mit sich selbst und sie hat seitdem nicht mehr zu sich gefunden. Zumindest nicht in Regierungsverantwortung. Damit, dass man dort jetzt einmal auf den Tisch haut, will man sich und den anderen versichern, dass man es noch kann. Ordnet man das aber in den Kontext der ganzen Legislatur ein, kommen Zweifel auf. Will Martin Schulz mit seiner Partei zurück zu den Wurzeln und gleichzeitig auf in die Zukunft, braucht es wahrscheinlich vor allem eins: Beständigkeit.

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Louis Koch

Louis Koch

Redakteur bei appstretto
Louis studiert Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste Berlin. Er hat Spaß am Texten und Konzipieren, vor allem, wenn es um Politik geht. Bei appstretto ist er als Redakteur unter anderem für die Inhalte von wahl.de zuständig.
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