Es dauerte nur wenige Tage, bis die Wellen um Martin Schulz‘ Kanzlerkandidatur auch ins Ausland schwappten. Plötzlich fühlten sich dortige Journalisten dazu animiert, Kurzbiographien über den Mann zu verfassen, der bis vor kurzem noch als schlagfertiger Präsident des Europaparlaments auf sich aufmerksam machte.
Einen Man of the people nennt der Guardian Schulz. Als charismatisch, aufrichtig und hingebungsvoll beschreibt ihn das Time Magazine. Das sind Beschreibungen, nicht unähnlich denen, in welchen sich auch die hiesigen Medien über den neuen SPD-Spitzenkandidat ergötzen. Doch neben Schulz, dem Brüsseler, gibt es bald auch Schulz, den Berliner. Und so sehr die Ernennung Schulz‘ für die Sozialdemokraten zum Hoffnungssymbol stilisiert wurde, so sehr beschäftigte die Öffentlichkeit in den letzten Tagen auch die Frage nach seinen innenpolitischen Positionen.

Am heutigen Sonntag hielt Schulz seine Antrittsrede als Kanzlerkandidat. Und die hatte es in sich. Unter dem bronzenen Blick Willy Brandts und seinem Credo „Zeit für mehr Gerechtigkeit“ läutete Martin Schulz rhetorisch und inhaltlich den Wahlkampf ein. In seiner über eine Stunde währenden Ansprache fand er Worte zu innen-, außen-, europa- und parteipolitischen Themen und antwortete auf jene Stimmen, die in den vergangenen Tagen seine Befähigung zum Bundeskanzler angezweifelt hatten. Schulz war neben seiner zweiundzwanzigjährigen Amtszeit als Europapolitiker lediglich auf kommunaler Ebene in der Politik aktiv gewesen.

Eine Sternstunde der Demokratie

Als Auftakt seiner Rede erklärt Martin Schulz, er wolle die Wahlen spannend machen. Dazu formuliert er den Anspruch, mit der SPD stärkste politische Kraft im Land werden zu wollen. Man möchte Gräben überwinden und ein neues Miteinander schaffen. Doch das gehe nur, indem man die hart arbeitenden Menschen in den Mittelpunkt der Politik stelle. Tatsächlich ist es dieses Thema, den verlorenen Fokus auf die, die „den Laden am Laufen halten“, wiederzufinden, das Schulz am häufigsten aufgreift. Gebührenfreie Bildung, bezahlbarer Wohnraum; es sind die klassischen Themen der Sozialdemokratie.
Oft verweist er auf seine Zeit als Bürgermeister, nennt kommunale Institutionen, die gestützt werden müssen, demonstriert mit viel Charisma seine Bürgernähe. Und bleibt gewohnt optimistisch:

„Das Zusammenführen von Menschen ist die Kernkompetenz der SPD“

Wenn es um seine Partei geht, spart Schulz nicht mit Pathos. Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhardt Schröder hätten Deutschland gut getan. Immer wieder beschwört er die Solidarität der Genossen und geht dabei auch auf Konfrontation mit dem Koalitionspartner. Dass die CSU Viktor Orban hofiere sei ein offener Affront gegen die Interessen der BRD. Ohnehin sei die Union von leidigen Klüngeleien geprägt und die SPD die treibende Kraft in der Koalition.

Doch jede Kritik formuliert Schulz mit demselben Respekt, den er für den Wahlkampf auch von den Akteuren der anderen Parteien einfordert. Das, was die Kampagnen in den USA geprägt hatte, namentlich Polemik und ein fehlender Anstand in der Debatte, dürfe in Deutschland nicht passieren. Der Wahlkampf könne eine Sternstunde der Demokratie werden, unter dem Primat der Fairness als oberstes Gebot.
Dazu lädt er die anderen Parteien zu einem Fairness-Abkommen ein: Es möge doch gemeinschaftlich auf eine Nutzung von Social Bots im Wahlkampf verzichtet werden.

Liberal, aber nicht doof

Thematisch deckt Schulz ein ganzes Wahlprogramm ab. Immer in Rückbezug auf die kleinen Leute, immer in Gedanken im Kommunalen. Er erklärt die Bekämpfung von Steueroasen zum zentralen Wahlkampfthema. Das Geld müsse zwangsläufig in die Bildung, in Kitas, in Ganztagsschulen investiert werden. Gute Löhne, sichere Jobs, die finanzielle Gleichstellung der Geschlechter, eine sichere Rente, das sind die Themen, mit denen Martin Schulz die verdrossenen SPD-Wähler wieder mobilisieren will. Eine Lohnsteigerung im Pflegesektor sei genauso notwendig wie ein Bündnis mit den Gewerkschaften. Dazu brauche Deutschland endlich einen sozialdemokratischen Finanzminister. Dass seine Tätigkeit als EU-Politiker ihn nicht zur Behandlung innenpolitischer Probleme befähige, tut Schulz als arrogantes Gerede ab. Aus seiner Zeit als Bürgermeister einer 37.000-Einwohner Stadt wisse er um die Wichtigkeit der kommunalen Problemlösung, sagt er sinngemäß.

„Jedes Problem landet am Ende auf der kommunalen Ebene“

Dann spricht er über das Thema, das das politische Klima in Deutschland seit einiger Zeit dominiert: Migration. Schulz warnt. Ein generelles Misstrauen gegenüber Flüchtlingen sei bereits ein Sieg des IS. Er lobt das Engagement der Freiwilligen, die Städte, Länder und Kommunen im Sommer 2015 unterstützten. Das sei eine historische Leistung. Doch die SPD dürfe, mahnt Schulz, nicht nur für die einstehen, die beherzt und voller Dynamik voranschreiten. Sie müsse auch Anwalt derer sein, die Ängste haben. Es müsse mit aller Konsequenz gegen Straftäter vorgegangen werden. Solche, die die Religionsfreiheit als Vorwand nutzen, um gegen die demokratische Rechtsstaatlichkeit zu operieren, müssten die „volle Härte“ zu spüren bekommen. Dazu gehört ein größeres Budget für Sicherheitsfragen, eine Aufstockung der Polizei etc. Passend zitiert Schulz seinen Hamburger Parteigenossen Olaf Scholz: „Ich bin liberal, aber nicht doof.“

Diese klaren Worte könnten vor allem den jungen Wählern aufstoßen, bei denen Martin Schulz trotz seiner Zugehörigkeit zum rechten Flügel der SPD ein gutes Standing hat. Sie sind jedoch an klares Zeichen an die ehemaligen Stammwähler, die eine zu laxe Auseinandersetzung der Partei mit ihren Sorgen nach rechts hat abwandern lassen. Einen Seitenhieb auf Angela Merkel lässt sich der charismatische Sozialdemokrat dabei nicht nehmen: Es reiche nicht, Verständnis für die Sorgen der Menschen aufzubringen. Man müsse diese auch mit tiefer Empathie spüren.

Europa muss liefern

Eine Nachricht an diesem Mittag ist unmissverständlich: Ein starkes Deutschland geht mit einem starken Europa Hand in Hand. Deutsche Innenpolitik und Europapolitik dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden. Dies sei plumpe Rhetorik und führe zwangsläufig zu Ausgrenzung.
Schulz verfolgt damit thematisch den Pfad, für den er sich als Europapolitiker immer wieder ausgesprochen hat: Die Nationalstaaten könnten die Anforderungen des 21. Jahrhunderts nicht mehr isoliert begegnen. Eine funktionierende Demokratie der Zukunft müsse eine transnationale sein.
In diesem Zug müsse Europa liefern. Der Schutz der EU-Außengrenzen und ein europäisches Einwanderungsgesetz stünden einer Union voran, wie auch die gemeinsame Bekämpfung von Fluchtursachen einem Frieden in Syrien voran stehe.
Ein deutsches Engagement für Europa und eine solidarische SPD sieht Schulz auch als Antwort auf den progressiven Nationalismus. Für die AfD findet er klare Worte: Die Partei der Höckes, Gaulands und Petrys sei keine Alternative, sondern eine Schande für Deutschland.

„Solidarität und faire Lastenteilung ist die Basis der Europäischen Zusammenarbeit“

Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, eine digitale Grundrechte-Charta, einheitliche Steuergesetze, ein europäisches Asylrecht. Alles das sind Punkte, zu denen sich Martin Schulz bereits in der Vergangenheit positioniert hat und deren Töne auch heute im Willy-Brandt-Haus wahrnehmbar waren, teils explizit, teils zwischen den Zeilen.

Es geht ein Ruck durch die SPD

Schulz‘ Auftritt bleibt geschrieben in der Handschrift eines passionierten Europäers. Natürlich strotzte er vor Wahlkampfrhetorik, inklusive Pathos und Aufbruchsstimmung. Ob Schulz die SPD wieder aus der Glaubenskrise führt, darüber lässt sich natürlich nur spekulieren. Fakt ist jedoch, dass er der Forderung, er müsse dem Hype um seine Kandidatur nun mit fundierten Inhalten gerecht werden, nachgekommen ist. Dazu ist es ihm gelungen, aus diesen Inhalten ein Narrativ für seine Partei zu spinnen, das die Urwerte der Sozialdemokratie wieder ins Zentrum zu rücken verspricht. Zeit für mehr Gerechtigkeit. Es gehe ein Ruck durch die SPD, fasst Schulz sein Gesagtes am Ende zusammen.

In einem Gespräch mit dem Philosophen und Buchautor Richard David Precht letzten Jahres zeigte sich Martin Schulz als Pragmatiker und unerschütterlicher Optimist. Den oft düsteren diffusen Szenarien Prechts begegnete Schulz immer wieder mit  Tatsachen und realpolitischen Lösungsvorschlägen. Am Ende bekräftigt er, die Politik brauche wieder Typen. Typen, die nicht nur so scheinen, als ob, sondern so sind, wie sie es sagen. Die Sonntagsfragen der nächsten Monate werden zeigen, ob die SPD mit Martin Schulz so einen Typen ergattert hat.

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Louis Koch

Louis Koch

Redakteur bei appstretto
Louis studiert Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste Berlin. Er hat Spaß am Texten und Konzipieren, vor allem, wenn es um Politik geht. Bei appstretto ist er als Redakteur unter anderem für die Inhalte von wahl.de zuständig.
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