10 Wochen Zeit, 15 Prozent Abstand. Das sind die kalten harten Fakten, die zwischen der SPD und der Bundestagswahl stehen. G20 hat nochmal ein paar Punkte geraubt, die Union weiß das Debakel medienwirksam auszuschlachten. Martin Schulz‘ Auftritt in der Hamburger Schanze hat das gezeigt. Es sieht nicht rosig aus. Eine gute Gelegenheit also, sich wieder einmal der inneren Werte zu erinnern.

Zehn Ziele für das moderne Deutschland – Ziel 1 bis 5

Einen Zehn-Punkte-Plan stellte die SPD deshalb gestern im Willy-Brandt-Haus vor, unterfüttert mit dem lyrisch noch etwas holprigen Trikolon „Zukunft – Gerechtigkeit – Europa“. Diese zehn Ziele konstituieren sich aus Überlegungen zur Finanz-, Bildungs-, Arbeits-, Familien- und Außenpolitik. Nein, eigentlich sind es keine Überlegungen, sondern konkrete Vorschläge auf der Basis des Regierungsprogramms, stellt Generalsekretär Hubertus Heil klar. Einen „scharfen Kontrast zum konservativen Stillstand“ will die SPD bieten. Positionierung also als Abgrenzung zur Union. Zeitgleich die Abkehr vom Image des geistigen Wiederkäuers hin zum sozialen Vordenkertum. Und je knapper die Zeit, desto kühner die Rhetorik. Deshalb haftet dem Plan tatsächlich etwas Entstaubendes, Progressives an. Wir haben die Ziele einmal seziert:

I Vorfahrt für Zukunftsinvestitionen

Fortschritt, das heißt Investition in allen Bereichen: In schnelle Glasfaserverbindungen, in die Energiewende, in Forschung und Entwicklung, in Schienen und Straßen, in Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, aber vor allem in Kitas, Schulen und Hochschulen. Um das zu gewährleisten, nimmt die Partei den Staat in eine Investitionspflicht. Veranschlagt sind für die nächste Legislaturperiode 30 Milliarden Euro, einiges davon soll in den sozialen Wohnungsbau fließen. Für einkommensschwache Familien und Alleinerziehende ist ein erweitertes Kindergeld geplant.
Die Finanzierungshintergründe fußen auf dem Steuerkonzept, das die SPD Ende Juni vorgestellt hatte. Kurz und knapp hieß es da: 15 Milliarden Euro Entlastung vor allem für Gering- und Normalverdiener, als Konter dazu Steuererhöhung für Spitzenverdiener. An eine Vermögenssteuer hatte man sich nicht herangetraut. Ob das Investitionsbedürfnis so getilgt werden kann, wird sich zeigen.

II Innovationsallianz für die deutsche Industrie

Investitionsfreudigkeit braucht Wirtschaftswachstum. Das will die SPD durch mehr Ausgaben für Forschung erreichen, vor allem mehr Geld für Digitalisierung. Der Plan: Ein Digitalisierungsfonds für Glasfaser und 5G, zusätzlich jährlich fünf Milliarden Euro Starthilfe für Startups. Dazu weniger CO2, mehr erneuerbare Energien bei Wärmeversorgung und Verkehr und im Zuge dessen auch die Rettung der Autoindustrie.
Denn während Deutschlands Erfolgsbranche schwächelt, wächst die Angst vor Fernost, auch bei der Wirtschaftsfraktion der SPD. Das kostet Geld. Kurzum: Mehr Investitionen in Innovationen, damit aus der Rendite bald in andere Sachen investiert werden kann. Ist absolut notwendig, hört sich aber nicht danach an, als stellte sich ein Erfolg schon in der nächsten Legislatur ein.

III Arbeiten und Leben in der digitalen Gesellschaft

Digitalisierung ist das große Thema von Schulz‘ SPD. Die wird groß angegangen („revolutionär wie der Buchdruck und die Elektrizität“),  weil man weiß, dass man da vom Know-How einen Vorsprung auf die Union hat. Und ins Rollen bringen soll sie der Staat, Stichwort E-Government. Das soll auch Bürgerämter bald überflüssig machen. Weitere konkrete Bestrebungen sind: Recht auf befristete Teilzeit und ein fairer Wettbewerb, aber auch Law and Order im Internet. Ganz im Zeichen von Staatstrojaner und Co. fordert die SPD mehr Geld für IT-Sicherheit.

IV Zusammenhalt und Vielfalt in der offenen Gesellschaft sichern

Hier stellt man klar: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Die SPD will den Migrationsdiskurs weg vom starken Fokus auf Sicherheit, hin zu Integration und Teilhabe lenken. Dazu möchte sie ein einheitliches Einwanderungsgesetz schaffen. Das Ziel behandelt aber auch die Förderung strukturschwacher Regionen als Pflicht. Dass die Partei die Integration von Zuwanderern und ehemaligen blühenden Landschaften in spe nicht getrennt behandelt, ist ein kluger Zug. Beide haben mehr miteinander zu tun, als sie gemeinhin denken mögen. Neben mehr Anstrengungen zur Gleichberechtigung heißt es aber auch: 15.000 neue Stellen für die Polizei. Gefordert wird auch eine effektivere Strafverfolgung. Notwendige Zugeständnisse an die konservative Wählerschaft sind notwendig, wenn man der Union noch ein paar Prozentpunkte abluchsen will.

V Gute Arbeit schaffen, einen fairen Generationenvertrag schließen

Der mutigste Coup des Plans wurde medial schon groß aufgegriffen: Das Chancenkonto. Als „Grundeinkommen light“ bezeichnete die taz das Projekt, das eine ungewöhnlich sozialdemokratische Färbung hat. Ein staatliches Startguthaben soll allen ArbeitnehmerInnen die Grundlage für Weiterqualifikationen, Sabbaticals oder den Übergang in die Selbstständigkeit bieten. Der Plan ist eingebettet in eine Arbeitsreform: Arbeitslosenversicherung und Agentur für Arbeit sollen nicht erst bei Arbeitslosigkeit aktiv werden, sondern um den Aufgabenbereich der Qualifizierung Erwerbstätiger ergänzt werden.
Ein weiteres klassisches SPD-Thema ist die Stärkung von Tarifverträgen und das Recht auf gleichen Lohn bei gleicher Arbeit. Und auch mit der geplanten Abschaffung der Zwei-Klassen-Medizin greift die Partei ein Thema auf, das schon länger grassiert. Eine paritätische Bürgerversicherung soll auch wieder durch Arbeitgeberbeiträge finanziert werden. Beanstandungen wird es wahrscheinlich von den Gewerkschaften geben; die Reform könnte die privaten Krankenversicherungen mehrere zehntausend Jobs kosten. Auf der anderen Seite entstehen auch neue Arbeitsplätze.
Die letzte große Baustelle ist die Rentenreform. Bei einem stabilen Rentenniveau von 48% bis 2030 sollen die Versicherungsbeiträge nicht über 22% steigen. Die Diskrepanz speist sich aus Steuergeldern in Form eines Demographiezuschusses.

 

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Louis Koch

Louis Koch

Redakteur bei appstretto
Louis studiert Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste Berlin. Er hat Spaß am Texten und Konzipieren, vor allem, wenn es um Politik geht. Bei appstretto ist er als Redakteur unter anderem für die Inhalte von wahl.de zuständig.
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