In einer von Ketchum Pleon in Zusammenarbeit mit YouGov durchgeführten repräsentativen Befragung der deutschen Bevölkerung ab 18 Jahren werden den im Bundestag vertretenen Parteien ein schlechtes Zeugnis ausgestellt und einige überraschende Ansichten zur Gerechtigkeitsdebatte geliefert.
Befragt nach der Zufriedenheit mit dem demokratischen System in Deutschland zeigt sich gerade einmal eine knappe Mehrheit von 54 Prozent der mehr als 1.000 Befragten sehr oder eher zufrieden; 46 Prozent der Befragten äußern sich sehr oder eher unzufrieden.
Unter den befragten Frauen fällt die Zufriedenheit noch geringer (51 Prozent) aus als bei den Männern (60 Prozent); mit sinkendem Haushaltseinkommen wird die Systemfrage immer stärker gestellt. So äußern sich bereits 58 Prozent derjenigen, die über ein Haushaltsnettoeinkommen von unter 2.000 Euro im Monat verfügen (zu dieser Gruppe gehören rund 40 Prozent aller Befragten) als sehr oder eher unzufrieden mit dem demokratischen System in Deutschland.
Solche Zahlen müssen jeden Demokraten elektrisieren; wenn die Grundsatzfrage zum politischen System nur zur Zustimmung durch eine knappe Mehrheit führt. Die Politiker selbst kommen in der Befragung noch deutlich schlechter weg: nur 34 Prozent der Befragten geben an, sich von den im Bundestag vertretenen Parteien repräsentiert zu fühlen; zwei Drittel der Befragten (66 Prozent) fühlen sich eher nicht oder überhaupt nicht repräsentiert. Allerdings fällt das Votum entlang der parteipolitischen Präferenzen höchst unterschiedlich aus. Während sich Anhänger von CDU und CSU gut repräsentiert fühlen, was sicherlich den derzeitigen Mehrheitsverhältnissen im Bundestag geschuldet ist, teilen die Anhänger der anderen Parteien (auch die der FDP) das Gefühl nicht. Das ist ein großes Problem für eine parlamentarische Demokratie. Befragt nach den Gründen werden den Politikern besonders fehlende Transparenz ihrer Entscheidungen, mangelnde Bürgernähe, Defizite in der Glaubwürdigkeit und eine zu große Nähe zu Interessengruppen vorgehalten.
Finden Sie Ihre Interessen von den Parteien im Deutschen Bundestag gut vertreten und repräsentiert?
Die im Rahmen der Studie ermittelten Zahlen sind umso besorgniserregender wenn man berücksichtigt, dass es uns in Deutschland derzeit im Vergleich mit anderen europäischen Staaten sehr gut geht, was auch die Folge politischer Entscheidungen ist. Man stelle sich die gleiche Studie in Zeiten einer hohen Arbeitslosigkeit vor. Insgesamt fragt man sich, ob die Deutschen sich vielleicht zu wenig mit den politischen Institutionen und ihrer Funktionsweise beschäftigen.
Fest scheint auf den ersten Blick die Frage der Zufriedenheit mit dem demokratischen System mit der Frage von Gerechtigkeit verbunden. So verwundert es kaum, dass 64 Prozent der Befragten angaben, dass es in Deutschland eher ungerecht oder sehr ungerecht zugeht und dass die häufigsten in diesem Zusammenhang genannten Aspekte Unterschiede bei Löhnen und Gehältern und die Entwicklung des Rentenniveaus waren. Angesichts der in diesem Wahlkampf geführten Gerechtigkeitsdebatte, die sich besonders im Bereich der Steuerpolitik in den Wahlprogrammen einiger Parteien niederschlägt, lohnt sich aber ein zweiter Blick auf die Ergebnisse der Umfrage. So wurde auch danach gefragt, ab welchem Bruttojahreseinkommen ein Berufstätiger in Deutschland als „reich“ zu bezeichnen sei. Eine deutliche Mehrheit der Befragten (62 Prozent) gaben dabei Jahreseinkommen von 100.000 Euro oder deutlich darüber an. Gefragt danach, ab welchem Betrag in Deutschland der Spitzensteuersatz gelten sollte, gab eine deutliche Mehrheit der Befragten (58 Prozent) ein Jahreseinkommen von mindestens 100.000 Euro und mehr an.
Besonders bemerkenswert ist die Bewertung der These: Niemandem sollte mehr als die Hälfte seines laufenden Einkommens durch Steuern und Sozialabgaben genommen werden. Dieser These stimmten 73 Prozent der Befragten über alle politischen Lager hinweg zu, wobei sich sogar 60 Prozent derjenigen, die die Linkspartei als Präferenz angegeben haben, dem zustimmten (68 Prozent SPD; 79 Prozent CDU/CSU). Lediglich 18 Prozent widersprachen dieser These.
Das Ergebnis zeigt, dass die Gerechtigkeitsdebatte bisher viel zu eindimensional geführt wird. Es lässt sich nicht so ohne weiteres von der Frage nach Gerechtigkeit auf die Akzeptanz des Umverteilungswerkzeugs Steuerpolitik schließen. Auch scheinen Politik und Gesellschaft in Deutschland sehr unterschiedlich zu definieren, ab wann jemand als „reich“ zu gelten hat. Daraus folgt, dass die Debatte über Gerechtigkeit künftig nicht auf die Frage von Einkommens- und Vermögensverteilung verengt werden sollte.
Thomas Helm
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