Die letzten Momente, in denen die Wahllokale geöffnet sind, gleichen in der medialen Berichterstattung bislang dem Countdown eines Raketenstarts: Die Zeit wird heruntergezählt, und um Punkt 18 Uhr werden dann unmittelbar mit Schließung der Wahllokale die ersten Hochrechnungen präsentiert. Möglich ist das auf Grund von Wählerbefragungen, die während des Wahltags durch Meinungsforschungsinstitute durchgeführt werden. Die Hochrechnungen sind erstaunlich präzise – dürfen aber nicht vor Schließung der Wahllokale veröffentlicht werden, um die laufenden Wahlen nicht zu beeinflussen. Mit diesem Procedere könnte es bei der kommenden Bundestagswahl vorbei sein, wenn das vom Bundeswahlleiter als GAU, also als „größter anzunehmender Unfall“ bezeichnete Szenario eintritt. Presseberichten zufolge wird sowohl von ihm, als auch Bundestagsabgeordneten befürchtet, dass die vertraulichen "Exit Polls", die den Parteien schon gegen Nachmittag bekannt sind, am Wahltag bereits vor 18 Uhr getwittert werden. Das, so der Bundeswahlleiter, könnte "im schlimmsten Fall" dazuführen, dass die Bundestagswahl wiederholt werden muss. Was ist dran an dieser Befürchtung?Kann Twittern wirklich die Wahl gefährden? Welche rechtlichen Konsequenzen drohen dem (Re)tweetenden?

Das Bewusstsein um die Gefahr, dass Exit Polls vor Ablauf der Wahlzeit – also vor 18 Uhr – veröffentlicht werden könnten, ist nicht neu. Bereits seit 1979 ist daher die Publikation von Ergebnissen oder Teilergebnissen von am Wahltag nach der Stimmabgabedurchgeführten Befragungen der Wähler über den Inhalt ihrer Wahlentscheidungausdrücklich gesetzlich untersagt. Gewährleistet werden soll, dass die gewonnenen "voraussichtlichen Wahlergebnisse" keine Auswirkung auf das Stimmabgabeverhalten der Wahlberechtigten haben. Eine Vorabveröffentlichung birgt, so der Gesetzgeber,die Gefahr einer "unzulässigen Wahlbeeinflussung" und damit eines Verstoßes gegen die Freiheit der Wahl. Eine Verletzung dieses grundgesetzlich festgeschriebenen Wahlrechtsgrundsatzes ("Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt.") kann – im schlimmsten Fall – auch eine Wiederholung der Wahl nach sich ziehen. Es kommt bei einer Vorabveröffentlichung auch nicht darauf an, ob tatsächlich die genauen Umfrageergebnisse bekanntgegeben werden. Entscheidend ist der Eindruck, den ein unvoreingenommener Leser vom Inhalt der Nachricht gewinnen kann. Auch eindeutige Tendenzmeldungen ohne Beleg durch konkrete Zahlen fallen unter die Verbotsregelung. Obwohl das Verbot vor dreißig Jahren mit Blick auf die klassischen Medien geschaffen wurde, erfasst es jede Form der Veröffentlichung, und damit auch das Absetzen eines Tweets, also einer Kurznachricht auf Twitter. Damit könnten theoretisch aufgrund einer "Twittervorabveröffentlichung" Neuwahlen notwendig werden.

Praktisch ist es allerdings äußerst unwahrscheinlich, dass eine Bundestagswahl wegen einer zu früh getwitterten Exit Poll für ungültig erklärt wird. Den ersten Schritt könnte ein Wahlberechtigter durch Einlegung eines Einspruchs gegen die Wahl beim neu gewählten Bundestag machen. Das ist mit der Behauptung möglich, bei der Bundestagswahl seien die Wahlrechtsgrundsätze verletzt worden. Im so genannten Wahlprüfungsverfahren würde dann durch einen Wahlprüfungsausschuss des Bundestags den gerügten Verstößen nachgegangen. Die – nicht allzufrüh zu erwartende – Entscheidung des Bundestags kann dann vom Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Wahlprüfungsbeschwerde überprüft werden, gesetzt den Fall der Wahlberechtigte kann noch 100 Mitstreiter, eine Fraktion, oder zumindest ein Zehntel der Mitglieder des Bundestages von seinem Anliegen überzeugen.

Die Ungültigkeitserklärung einer Wahl wird nur erfolgen, wenn das in Rede stehende Verhalten das Wahlergebnis auch tatsächlich beeinflusst hat, und diese Beeinflussung für den Ausgang der Wahl erheblich war. Voraussetzung ist zunächst das Vorliegen eines "erheblichen Wahlfehlers", beziehungsweise einer erheblichen Verletzung der Wahlrechtsgrundsätze. Hier stellt sich bereits die Frage, ob die Tatsache dass "via Internet Unentschlossene mobilisiert werden könnten" (so der Bundeswahlleiter laut Spiegel Online) überhaupt als "Wahlbeeinflussung" eingestuft werden würde. Aber selbst wenn das der Fall sein sollte, wäre eine Ungültigkeitserklärung einer Bundestagswahl nur als "letztes Mittel" anzusehen. Der Verstoß muss so schwerwiegend sein, dass – so heißt es in poetischem Juristendeutsch – "ein Fortbestand der in dieser Weise gewählten Volksvertretung unerträglich erscheint".

Es müsste also konkret nachgewiesen werden, dass das unzulässige Twittern von Exit Polls einen tatsächlichen Einfluss auf das Wahlergebnis, und damit letztlich auf die Zusammensetzung des Bundestags hatte. Auch wenn Twitter "the current big thing" sein mag sollte man die Reichweite und den Einfluss von Twittermeldungen mit Blick auf die Gesamtzahl der Wahlberechtigten nicht überschätzen. Über die tatsächliche Wirkung von Vorabveröffentlichungen liegen zwar bislang keine Erkenntnisse vor. Es ist aber durchaus Zurückhaltung angebracht: Während in anderen Ländern zwar ab einemg ewissen Zeitpunkt vor der Wahl sogar die Durchführung und Veröffentlichung von "normalen" Meinungsumfragen untersagt ist, wird hierzulande jegliche Beeinflussungswirkung durch Prozentzahlen, Trends und Hochrechnungen von Fachleuten als "Kinderglaube" abgetan.

Die von Abgeordnetenseite in Zusammenhang mit den Befürchtungen des Bundeswahlleiters geäußerte Erwägung, Exit Polls wegen der "Twittergefahr" zu verbieten, erscheint vor diesem Hintergrund nicht nur überzogen, sondern auch verfassungsrechtlich bedenklich. Immerhin würden Presse-, Informations- aber auch die Berufsfreiheit der Meinungsforschungsinstitute eingeschränkt. Wenn wirklich relevante Manipulationen beabsichtigt würden, ist wohl derzeit (noch?) die Nutzung anderer, herkömmlicher Wege und Medien auf Grund der weit besseren Breitenwirkung viel erfolgversprechender. Bislang hat das seit dreißig Jahren existierende Verbot völlig zur Verhinderung von Vorabveröffentlichungen ausgereicht. Auch der andernorts vorgeschlagene Abschluss eines zusätzlichen "non-disclosure agreements" also eines "Kodex des Stillschweigens" zwischen Parteien, Medien und Meinungsforschern sollte schon deshalb nicht notwendig sein, ist aber aus Klarstellungsgründen und zur Bewusstseinsschaffung in Anbetracht der Vorfälle bei der Bundespräsidentenwahl vielleicht nicht unklug.

In diesem Zusammenhang muss auch klargestellt werden, dass eine Missachtung des Vorabveröffentlichungsverbots für den Twitternden auch finanziell erhebliche Folgen haben kann. Ein Verstoß gilt als Ordnungswidrigkeit. Der Bundeswahlleiter kann für den "Exit Poll Tweet" bis zu 50.000 Euro Bußgeld verhängen und zwar unabhängig davon ob die Wahl letztlich für ungültig erklärt wird oder nicht.

Aber auch ein Retweet ist rechtlich hochgradig bedenklich. Bei (im Fall der Fälle zu erwartender) strenger Auslegung des Gesetzes ist eine Einstufung als "Beteiligung" oder sogar als eigener neuer Verstoß denkbar. Gleiches gilt im Übrigen auch für andere Medien. Ein Verbloggen, Verpodcasten aber auch herkömmliches Senden des unzulässigen Originaltweets im Rundfunk etc. – kurz jede weitere Veröffentlichung des Ergebnisses würde ebenfalls ein Bußgeld nach sich ziehen.

Wie so oft bei juristischen Sachverhalten kann mit guten Gründen auch das Gegenteil vertreten werden. Ein Vorgehen gegen einen wegen Retweetens verhängten Bußgeldbescheid erscheint nicht aussichtslos.

Dass Twitter die Bundestagswahl in Gefahr bringen wird, ist unwahrscheinlich. Im Gegensatz dazu ist dem Twitternden ein Bußgeld sicher. Auch ein Retweet kann für viele die teuersten zwei Sekunden ihres Twitterdaseins bedeuten. Fest steht jedenfalls, dass ein Gutteil der Spannung bei einem Vorabtwittern der voraussichtlichen Wahlergebnisse dahin wäre. Twittern kann also zumindest das Raketenstartflair der Bundestagswahl gefährden.

Beitrag von Dr. iur. Jan Dirk Roggenkamp, Rechtsanwalt in der Praxisgruppe IT bei Bird & Bird LLP, Frankfurt am Main. Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Meinung und Rechtsauffassung des Autors wieder.

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