2005 war das Jahr, in dem die Menschen zu tausenden auf die Straße gingen, um gegen die neu eingeführte Hartz-IV-Reform zu protestieren. Es war das Jahr, in dem ein polternder Gerhard Schröder seine Kontrahentin von den Christdemokraten um Längen unterschätzte und es war auch das Jahr, in dem die deutsche Wiedervereinigung gescheitert schien. Elf Prozent Arbeitslosigkeit in den westdeutschen Bundesländern stand eine Quote von über 20 Prozent in der ehemaligen DDR gegenüber. Die Mauer war weiterhin ein Trutzwall in den Köpfen und Bilanzbüchern, die blühenden Landschaften verkamen zur Farce. Aber vor dem Sonnenaufgang ist es ja bekanntlich am dunkelsten, und so akklimatisierten sich die Beschäftigungsverhältnisse beider Regionen mit den Jahren, auch durch kräftige Finanzhilfen der alten Bundesländer. Heute ist der Unterschied immer noch merklich, aber trotzdem so gering wie nie zuvor. 5,2 Prozent Arbeitslosigkeit im Westen versus 7,4 Prozent im Osten – Tendenz anhaltend.
Und während sich Städte wie Leipzig, Chemnitz oder Erfurt anschicken, im Rennen um die zukunftsträchtigen Regionen Deutschlands mitzuspielen, mahnen Wirtschaftsexperten seit einiger Zeit vor einem neuen Gefälle. Es ist der Norden, der den Forschern Sorgen macht. Das weiß man mittlerweile auch im Ausland. So berichtete jüngst zum Wahlkampfstart das britische Wirtschaftsmagazin The Economist über das schwelende Problem.
Die Trennung in Nord und Süd zieht das Blatt in etwa entlang der Uerdinger Linie, sodass sich Bevölkerung und Metropolen die Waage halten. Der Süden besteht nun aus dem Saarland, Rheinland-Pfalz, Hessen, Baden-Württemberg und Bayern sowie Thüringen und Sachsen. Diese beiden Nord- und Südregionen lassen sich hinsichtlich BIP, Arbeitslosigkeit etc. vergleichen.
Die Grafik zeichnet das Bild vom innovativen und strukturstarken Süden. Dieser Trend lässt sich sogar auf die Ost-West-Trennung übertragen; Sachsen, das südlichste Land der ehemaligen DDR, steht wirtschaftlich um einiges besser da als Mecklenburg-Vorpommern. Selbst in der Bildung ist die Nord-Süd-Grenze einfacher zu erkennen. Der Bildungsmonitor der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft zeigt, inwieweit das Bildungssystem eines Bundeslandes zum Wachstum und Wohlstand der Wirtschaft beiträgt. Hier belegen Sachsen und Thüringen die ersten beiden Plätze, gefolgt von Bayern und Baden-Württemberg. Mit Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, Bremen und Berlin kommen die Verlierer alle aus dem Teil nördlich der Grenze.
Generell zeigt sich eine nicht überwältigende, aber dennoch signifikante Kluft in der Horizontalen Deutschlands. Und die werde mittelfristig nicht eben kleiner, sagt André Wolf vom Hamburgischen WeltWirtschaftsInstitut. Er ist der Verfasser einer Studie, auf die sich der Economist bezieht. Um Wolfs Aussage zu verstehen, muss man sich die Wirtschaftsgeschichte von Bayern und Baden-Württemberg anschauen.
Erfolgsleiter auf bayrische Art
Vor allem nach Ende der Wirtschaftskrise, im Jahr 2009, konnten sich die beiden Bundesländer in Sachen Wirtschaftswachstum von allen anderen absetzen. Heute ist Bayern das Bundesland mit den niedrigsten Arbeitslosen, mit einer beeindruckenden Quote von drei Prozent, am anderen Ende steht Bremen mit über zehn Prozent. Das war nicht immer so. Vor dem zweiten Weltkrieg hatte der Norden aufgrund seiner Hansestädte und der Schwerindustrie eine Vormachtstellung in Deutschland, der Süden galt als rückständig. Es brauchte lange Zeit und kluges Management, um den Spieß umzudrehen. Noch 1960 war Bayern das ärmste Bundesland, heute liegt es beim Pro-Kopf-Einkommen hinter dem Stadtstaat Hamburg auf dem zweiten Platz. Wie kommt das?
Wolf hat eine Vielzahl an Ursachen für den Aufstieg des Südlands ermittelt, die sich in drei Gründe bündeln lassen.
Den Grundstein legte die bayrische Landesregierung bereits kurz nach dem zweiten Weltkrieg. Das Land stand damals vor der Herausforderung, eine große Zahl von Flüchtlingen aus den ehemaligen Ostgebieten zu integrieren. Man entschied sich deshalb für eine Industrialisierungsstrategie, die vor allem den Mittelstand anstelle der Großindustrie fördern sollte. Das kam besonders den strukturschwachen Gebieten fernab der Ballungsräume zugute. Es entwickelte sich eine Wirtschaft, in der kleine und mittlere Unternehmen florieren konnten, von denen viele als Zulieferer für die großen Konzerne Daimler und Siemens arbeiteten.
In den 70er Jahren entwickelte sich in Bayern und Baden-Württemberg der Trend hin zum Dienstleistungssektor und zur Leichtindustrie. Diese Neuausrichtung hinterließ die beiden Länder weitestgehend unberührt von den beiden Ölpreiskrisen, die sich in der Dekade ereigneten, ganz im Gegensatz zu den Industrieländern wie Nordrhein-Westfalen. Die mittelständische Struktur ermöglichte eine rasche Adaption und Verbreitung technologischer Innovationen und half den Südländern, den Untergang der Schwerindustrie zu verkraften.
Nach der Wende ergab sich durch die Öffnung des Ostens für Bayern ein Standortvorteil. Die Landesregierung setzte auf zwei strategische Leitlinien beim Management der Standortpolitik: Flexibilität und Fokussierung. Man baute die Infrastruktur aus und senkte Kosten durch die Verschlankung des Verwaltungsapparats. Außerdem erkannte man ein Potenzial in der Vernetzung zweier Disziplinen, namentlich der Wirtschaft und der Wissenschaft.
Was können Bund und Länder tun?
Diese Strategie hält bis heute an. Die kombinierten Ausgaben Bayerns und Baden-Württembergs für Forschung und Entwicklung sind größer als die aller Nordstaaten zusammen. Besonders ausgeprägt ist die Förderung im Bereich Wirtschaft. Sie übertreffen bei jedem der beiden Länder die Gesamtausgaben aller anderen Bundesländer.
Schaut man sich die wirtschaftliche Ausrichtung, die Innovationsbereitschaft und den Pragmatismus des Südens in den letzten 40 Jahren an, fällt es schwer, André Wolf zu widersprechen; es sieht in der Tat nicht danach aus, als würde sich der Abstand zwischen Nord und Süd mittelfristig wieder verringern.
Was aber müsste geschehen, um eine Trendwende zu bewirken? Zum einen gibt es zahllose Faktoren, die den wirtschaftlichen Auf- und Abschwung einer Region beeinflussen. Auch wenn wir bisher nur über aktive Maßnahmen gesprochen haben, bestimmen externe Faktoren wie Geographie, Demographie und der technische Wandel den Gestaltungsspielraum eines Bundeslandes extrem. Für die nördlichen Regionen könnten der Meereszugang und die flache Landschaft einen wichtigen Standortvorteil bei der Gewinnung erneuerbarer Energien darstellen, einem Wirtschaftszweig mit großem Zukunftspotenzial.
Ein weiterer Faktor, der unweigerlich die gesamte Wirtschaft beschäftigen wird, ist die digitale Transformation, Stichwort Industrie 4.0. Neue Arbeitsprozesse und Produktionswege, die über Schnittstellen automatisiert werden, erfordern mehr und mehr interdisziplinäres Wissen. Da kann dem ein oder anderen Land geraten sein, sich ein paar Tricks aus dem Süden abzuschauen. Denn Siemens und Daimler spielen da zumindest in Deutschland weit vorne mit. Und was die Verquickung von Wirtschaft und Wissenschaft angeht… Sie hat sich zumindest für Bayern und Baden-Württemberg als kluger Schachzug erwiesen.
Wäre das nicht ein Punkt, an dem der Bund ansetzen könnte? Man sollte meinen, dort hätte man ein Interesse daran, kein allzu großes Ungleichgewicht innerhalb des föderalen Systems zu haben. Dennoch ist das Eingreifen in dieses föderale System nicht erlaubt. Das Kooperationsverbot verbietet Bund und Ländern die Zusammenarbeit im Bildungssektor – und ist deshalb seit Jahren ein Streitpunkt in der Politik. 2014 beschlossen Bundestag und Bundesrat zwar eine Lockerung, um eben jene Vernetzung von Wissenschaft und Hochschulen besser zu fördern. Einigen Politikern geht das noch nicht weit genug. Sie wollen, dass die Aussetzung des Verbots auch die Schulen miteinbezieht.
Angesicht der vorne weg galoppierenden Südländer ist die Frage berechtigt, wie sinnig das Kooperationsverbot ist. Die im Bildungsbereich erlaubt diesen zwar zu brillieren; sie schwächen dadurch aber auch strukturschwache Regionen durch die Abwanderung qualifizierter Bewerber.
Eine Aufgabe der Bundespolitik könnte es sein, das Kooperationsverbot so anzupassen, dass es dem Staat möglich ist, in allen Alters- und Bildungsklassen regional einheitliche Bildungsstandards zu setzen, ohne den Föderalismus außer Kraft zu setzen. Zusätzliche Subventionspools für Öffentlich-Private-Partnerschaften in der Bildung oder InnovationLabs aus Schulen, Hochschulen und mittelständischen Betrieben wären ebenfalls Maßnahmen, deren finale Ausgestaltung man den Ländern überlassen könnte.
Mittlerweile haben einige Parteien die Abschaffung bzw. Reform des Kooperationsverbotes in ihr Wahlprogramm mit aufgenommen. Doof ist nur, dass man der Erfahrung nach mit solchen Themen keine Wahlen gewinnt. Dabei käme eine neue deutsche Bildungspolitik nicht nur dem Norden zugute.
Der Economist prophezeit, dass sich das Nord-Süd-Gefälle auch bei den Bundestagswahlen im September niederschlagen werde. Für die Parteien gehe es darum, den klassisch sozialdemokratisch geprägten Norden für sich zu gewinnen. Das wissen auch Merkel und Schulz. Beide touren früh durch das Ruhrgebiet, beiden reisen rasch nach Bremen, um in dem Bundesland mit der höchsten Arbeitslosigkeit für ihre Politik zu werben. Ob die Stimmen aus dem Norden am Ende das Zünglein an der Waage sein werden, ist fraglich.
Louis Koch
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