Deutschlands Rolle innerhalb Europas hat sich seit der Finanzkrise 2008 verändert.  Viele sprechen gar von einer deutschen Vormachtstellung. Umso spannender ist die Frage, wie sich das Ergebnis der Bundestagswahl auf das Machtgeflecht in Deutschland und damit auf die deutsche Europapolitik auswirken könnte.  

Zu diesen und weiteren Themen aus „Brüsseler Perspektive“ haben sich Carsten Holtkamp, Berater Public Affairs bei ergo Kommunikation und Sebastian Remøy, President Public Affairs der Agentur Kreab Gavin Anderson, ausgetauscht.   

Carsten: Am 22. September steht Bundeskanzlerin Merkel zur Wiederwahl. Laut aktuellen Umfragen sieht es ganz gut aus für sie. Gibt es in Brüssel überhaupt eine Diskussion über Alternativen zu Merkel?

Sebastian: In Brüssel gibt es weniger Diskussion über Alternativen zu Merkel als man erwarten könnte. Es geht eher darum, mit wem sie sich nach der Wahl verbünden wird. Das Ergebnis für die FDP in Bayern wird wahrgenommen und der Aufstieg der AfD sowie der Piraten können ebenfalls nicht ignoriert werden. Diese Parteien könnten den deutschen Volksparteien Stimmen wegnehmen. Dennoch bleibt in diesen Tagen die in Brüssel am häufigsten gestellte Frage: Welche Farbe passt am besten zu schwarz?

Carsten: Diese Farbspiele finden also auch in Brüssel statt… Erwartest Du, dass sich die Rolle Deutschlands in der EU mit einer neuen Regierung ändern wird?

Sebastian: Das bleibt abzuwarten, aber wahrscheinlich würden Studenten internationaler Beziehungen, insbesondere der „realistischen Schule“ das eher verneinen. Deutschlands Verhalten in Europa ist von seinen nationalen Interessen gelenkt. Es ist bemerkenswert, dass die SPD auf ihrer Website „Unser Europa“ über die Notwendigkeit,  Europa zu verändern und zu verbessern, spricht. Die Rede ist beispielsweise von der Schaffung eines sozialen Stabilitätspakts. Peer Steinbrück könnte andere Themenfelder priorisieren als Angela Merkel. Aber wenn es um die Verteidigung deutscher Interessen in Brüssel und international geht, wird er alle ihm zur Verfügung stehenden Instrumente nutzen. Denn seine Wähler, genau wie die von Angela Merkel, befinden sich in den deutschen Bundesländern, nicht in Frankreich, Italien oder Großbritannien.


Carsten: Welche Rolle wird Deutschland aus Brüsseler Perspektive zugeschrieben und wie beeinflussen die Deutschen einzelne Bereiche der EU-Politik?

Sebastian: Deutschlands Rolle als ein, wenn nicht der führende EU-Mitgliedsstaat ist dieser Tage in der Tat ein großes Thema in Brüssel. Eine Ursache dafür ist die deutsche Rolle bei der Stabilisierung der Eurokrise, aber das ist bei weitem nicht die einzige. In Handelsfragen bspw. zeigt Deutschland seine Muskeln. Zuletzt hat die Bundesregierung die EU-Kommission erfolgreich ermutigt, Handelsfragen mit China zu regeln. So konnten „Wie-Du-mir-so-ich-Dir“ Zölle vermieden werden, die der deutschen und europäischen Wirtschaft ernsthaft geschadet hätten. Bei der Finanzmarktregulierung, wie bspw. beim Thema Bankenunion, ist Deutschland der wichtigste Partner der EU-Kommission, wenn es darum geht, Kompromisse für neue Gesetze zu finden. Deutschland übernimmt hier mittlerweile zu einem gewissen Grad die einstige Rolle Großbritanniens.

Luigi Rosa CC BY-SA-2.0

Carsten: Insbesondere in der südeuropäischen Politik und Publizistik wird seit etwa zwei Jahren über eine „deutsche Hegemonie“ in Brüssel geklagt. Hältst Du diese Vorwürfe für berechtigt? 

Sebastian: Es gibt eigentlich keinen europäischen Bereich mehr, in dem Deutschland eine untergeordnete Rolle spielt. Deutschland ist ein Power Player, der starken Einfluss auf die EU-Politik nimmt. Aber sein Einfluss ist nicht hegemonial. Einige Griechen dürften dies derzeit anders bewerten. Deutschland ist nach Bevölkerung und Wirtschaftskraft der größte EU-Staat, aber eben nur ein Staat im Club der 28. Weitere fünf grössere Staaten sind ebenfalls sehr einflussreich. Auch die kleineren Länder sind sehr versiert darin, Allianzen im Sinne ihrer Interessen zu schmieden. Das ist ja das Schöne an der EU: Es kann keinen Hegemon geben, zumindest nicht im negativsten Sinne des Wortes. Die Bedeutung von Hegemonie definieren die einen als Dominanz, andere als Führung. Deutschland hat bisher geschickt geführt.

Carsten: In der nationalen veröffentlichten Meinung wird Deutschland ein Wille zu echter Führung oft abgesprochen. Hat sich das Verhältnis Deutschlands zu den Mitgliedsstaaten hier aus deiner Sicht verändert?

Sebastian: Deutschland blieb in der Krise stabil, während diese alle anderen großen Mitgliedstaaten aus der Bahn warf. Das hat die Glaubwürdigkeit Berlins gegenüber  Rom, Paris und Madrid verstärkt, wenn es um das Management der Eurozone geht. Die momentane Schwäche der französischen Wirtschaft hat die Achse Paris-Berlin aus der Balance gebracht. Ohne die Zustimmung der Deutschen ging bei der Eurokrise wenig in der Brüsseler Generaldirektion für Wirtschaft und Finanzen. Auch die britische Debatte über die Zukunft des Königreichs in der EU hat den  deutschen Einfluss gestärkt. Wenn ein Spieler auch nur laut darüber nachdenkt auszuscheiden, konzentriert sich die Macht umso mehr auf die verbleibenden Starken.  

Neben den harten Fakten gibt es in Brüssel ein Gefühl, dass Deutschland eine stärkere Führungsrolle in der EU übernehmen will. Dabei hat das von der CDU vorgetragene Ziel, Deutsch zu einer (de facto) Arbeitssprache in der EU zu machen, eine gewisse Symbolkraft. Das ist in Brüssel niemandem entgangen. Deutsch ist die Muttersprache der größten Bevölkerungsgruppe in der EU. Es deutet sich an, dass die deutsche Bescheidenheit gegenüber Brüssel zu Ende geht.

Carsten: Nimmt man in Brüssel also doch einen heimlichen deutschen Wunsch nach Dominanz wahr?

Sebastian: Viele Brüsseler Akteure bewerten das so: Deutschland sucht nicht aktiv nach mehr Macht oder Dominanz. Es ist eher wie in der Physik: Ein Element gewinnt an Masse, während die anderen verlieren. Wie die meisten deutschen Nachkriegs- Regierungschefs ist auch Angela Merkel eine Konsenspolitikerin. Ständig betont sie die Notwendigkeit für mehr Zusammenarbeit und Koordination. Bei dem deutschen Wunsch nach strikter Sparpolitik geht es nicht darum, andere zu beherrschen. Merkel will sicher stellen, dass deutsches Steuergeld nicht verschwendet wird. Anderenfalls geriete die Unterstützung der deutschen Bevölkerung für das europäische Projekt langfristig in Gefahr.

Ein anderer sensibler Aspekt beim Thema Dominanz sind die Auswirkungen der nationalen deutschen Entscheidungen auf seine Nachbarn und den Rest der EU. Die Energiewende ist ein Beispiel dafür. Ein solch radikaler Politikwechsel des größten Energieverbrauchers in der EU hat zwangsläufig Folgen auf die anderen Mitgliedsstaaten. In einem integrierten Binnenmarkt für Energie haben Entscheidungen zur scheinbar nationalen Energiepolitik immer auch eine internationale Dimension, die mehr grenzüberschreitende Abstimmung benötigt.

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Sebastian Remøy, President Public Affairs/ Head of Trade and Competition 

Sebastian leitet bei Kreab Gavin Anderson die globale Public Affairs Practice sowie die Handels- und Wettbewerbs-Practice. In seiner Karriere hat er bereits zahlreiche multinationale Unternehmen sowie Regierungen, Verbände und Gewerkschaften zu den Themen Handel, Wettbewerb und Regulierung beraten. Zudem hat er die Zusammenarbeit der EFTA-Staaten (Norwegen, Island, Schweiz und Liechtenstein) mit der EU, das European Economic Area Agreement (EEA), koordiniert. Zuvor war er als Handelsberater der US International Trade Administration in den US-Botschaften in London und Oslo tätig. Sebastian arbeitete auch in Washington, zunächst am Zentrum für Strategische und Internationale Studien und dann im US-Kongress, als Berater des Repräsentantenhaus und der Senatsausschüsse für Handels- und Industriethemen. 

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Carsten Holtkamp

Carsten Holtkamp

Carsten Holtkamp ist seit April 2013 bei ergo Kommunikation und arbeitet dort als Berater für Kunden aus dem Bereich Genussmittelwirtschaft. Der Kommunikations- und Politikwissenschaftler hat langjährige Agenturerfahrung im Bereich Public Affairs, Corporate Citizenship und Pressearbeit sowie eine kaufmännische Ausbildung im Medienbereich.