„Bitte gehen Sie wählen!“, „Sie haben die Wahl!“, „Deine Stimme kann mehr als meckern!“…

Solche gebetsmühlenartigen Wahlaufrufe kennen wir seit Jahren aus unzähligen Kampagnen. Absender sind meistens die „üblichen Verdächtigen“: Gewerkschaften, Kirchen oder Regierung. Und jetzt das: Führende deutsche Wirtschaftsverbände wie der DIHK und der VDMA wollen die deutschen Wähler am 25. Mai an die Wahlurne treiben. Warum das?

Ausgerechnet die deutsche Wirtschaft, die sonst gerne aus vollem Halse über „Eurokraten“, „Eurosklerose“ und „Butterberge“ schimpft, gibt sich auf einmal staatsmännisch:

„Die Europäische Integration ist ein Prozess, bei dem immer wieder auch Probleme zu lösen sind. […] Doch diese Herausforderungen löst man nicht mit populistischen Parolen“

, so der DIHK.

Wovor genau hat die deutsche Wirtschaft Angst, dass sie sich aktiv mit einem Aufruf zu hoher Wahlbeteiligung engagiert? Und kann die deutsche Wirtschaft ein glaubwürdiger Absender für einen „Pro-EU“-Wahlappell sein?

Zugegeben: Die Parolen der prominenten EU-Kritiker sind schon ein wenig martialisch. So haben Geert Wilders‘ niederländische PVV und Marine Le Pens französische Front National angekündigt, „das Monster in Brüssel zu erlegen“, indem sie die EU von innen heraus lahmlegen. In der Tat, die Anti-EU-Parteien stellen für die Wirtschaft essenzielle Rahmenbedingungen in Frage: Den Euro, die Freizügigkeit, die Weiterentwicklung des Binnenmarktes sowie weitere Integration.

Aber haben die euroskeptischen Parteien, die nach aktuellen Umfragen in Summe bis zu 29 Prozent der Stimmen holen können, wirklich die Macht, europäische Gesetzgebungsprozesse entscheidend zu torpedieren und damit für Angst und Schrecken bei der Wirtschaft zu sorgen? Nein, aber die Arbeitsweisen im Parlament werden sich verändern.

Können EU-Skeptiker Gesetzgebungsprozesse blockieren?

Sicher ist, dass im kommenden EU-Parlament deutlich mehr EU-skeptische Abgeordnete sitzen werden. Das heißt aber noch lange nicht, dass diese Gruppen die Gesetzgebungsprozesse im EP blockieren könnten. Dies würde eine enge Kooperation und eine starke Abstimmungsdisziplin voraussetzen. Genau das aber kann bei den unterschiedlichen Ausrichtungen und Überzeugungen der rechtsnationalen und EU-skeptischen Gruppen wie Front National (F), UKIP (GB), Lega Nord (I), FPÖ (AUT), PVV (NL) oder AfD (D) stark bezweifelt werden. Ein „weiter so“ wird es aber höchst wahrscheinlich auch nicht geben. Vielmehr dürfte sich bei einer wachsenden Zahl EU-skeptischer MdEPs die Arbeitsdynamik des Parlaments merklich ändern. Die „etablierten“ Fraktionsgemeinschaften EPP, S&D sowie ALDE müssten stärker kooperieren, in zentralen Fragestellungen sozusagen als Block der „überzeugten“ Europäer auftreten.

Daraus ergäben sich drei mögliche Konsequenzen: Erstens: EU-Debatten werden undifferenzierter geführt, „Schwarz-Weiß-Denken“ gewänne die Oberhand. Zweitens: Die etablierten Parteien werden zukünftig genötigt für bestimmte Abstimmungen Abgeordnete der „extremen“ Parteien auf ihrer Seite zu ziehen, um Mehrheiten zu erzielen. Mit allen Konsequenzen, die das auf das Vertrauensverhältnis innerhalb und außerhalb von Fraktionsgemeinschaften hätte. Drittens: Die etablierten Parteien werden zu besserer Arbeit angespornt. Indem sie unnötige, schwer vermittelbare Regelungen aus Kommissionsentwürfen tilgen und zeigen, dass sie bessere Volksvertreter sind als die Populisten.

Fazit: Die Medaille hat, wie immer, zwei Seiten. Zum einen: Die Gesetzgebungsprozesse würden nicht blockiert, aber insgesamt deutlich weniger kalkulierbar. „Business as usual“ fällt leider aus, zum Leidwesen der auf Planbarkeit erpichten Wirtschaft. Zum anderen: Konkurrenz belebt das Geschäft. Auch das Parlamentarische. Die etablierten Parteien werden zu besseren, dem Bürger vermittelbaren Resultaten und deren aktiver Kommunikation genötigt. Das ist im Zweifelsfall auch im Interesse der Wirtschaft.   

Die deutsche Wirtschaft als glaubwürdiger Absender eines Wahlaufrufs? 

Die Hoffnung der Verbände:„Wenn die Bürger und Unternehmer merken, dass ihre Belange auch auf EU-Ebene wahrgenommen werden, werden auch die Erfolgschancen der EU-kritischen Parteien deutlich sinken“, so DIHK-Chef Martin Wansleben. „Moment mal!“, dürfte sich der kritische Wähler fragen, „haben nicht die deutschen Verbände in der Vergangenheit fleißig EU-Bashing betrieben?“. Jüngste Schlagzeilen der „Mittelstandsnachrichten“, dem Organ des deutschen Mittelstandes, lesen sich in der Tat weniger EU-staatsmännisch:

„Eurovisionen -  Prognose 2014: Die legale Enteignung kommt“, „Zentralismus: Die Eurorettung gefährdet den Mittelstand“, „Deutsche sind größte Verlierer der Finanzkrise“.

Der Widerspruch ist offenkundig, nicht nur im „Zungenschlag“. Die Wirtschaftsverbände als glaubwürdige Absender eines Wahlappells? Eher nicht! Jetzt rächt sich, dass die deutsche Wirtschaft es in Vergangenheit versäumt hat eine klare Position zur ihrer Vorstellung eines funktionierenden Europas zu formulieren und engagiert zu kommunizieren. Ein Beispiel: Welcher Wirtschaftsvertreter hat sich jemals für eine stärkere Rolle des EU-Parlaments ausgesprochen, dem neuerdings öffentlich der demokratische Rücken gestärkt werden soll?

Damit hier kein Missverständnis entsteht: Es ist begrüßenswert, dass sich die Verbände in die Diskussion zur Europawahl einmischen. Entscheidend ist, dass sich die deutsche Wirtschaft jenseits von allgemeinen Positionspapieren kontinuierlich aktiv an der Debatte um strukturelle Weichenstellungen der EU beteiligt. Damit gäbe sie einigen derjenigen Enttäuschten eine (konstruktive) Stimme, vor denen sie aktuell Angst zu haben scheint.

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Carsten Holtkamp

Carsten Holtkamp

Carsten Holtkamp ist seit April 2013 bei ergo Kommunikation und arbeitet dort als Berater für Kunden aus dem Bereich Genussmittelwirtschaft. Der Kommunikations- und Politikwissenschaftler hat langjährige Agenturerfahrung im Bereich Public Affairs, Corporate Citizenship und Pressearbeit sowie eine kaufmännische Ausbildung im Medienbereich.