Frankreich, 1975: Nachdem sich Michel Foucault eingehend mit der Struktur europäischer Gefängnissysteme befasst hat, erscheint sein vielleicht bekanntestes Werk, Überwachen und Strafen. Darin rekapituliert der französische Philosoph nicht nur die Erkenntnisse seiner Forschung, sondern nutzt sie, um eine neue Art der Gesellschaft zu proklamieren: Die Disziplinargesellschaft.
In dieser Gesellschaft werden drakonische Strafen durch die Möglichkeit der permanenten Überwachung abgelöst. Als Beispiel erklärt Foucault die Idee des Panopticums, eines von dem Engländer Bentham schon Ende des 18. Jahrhunderts konzipierten Gefängnisses. Im Zentrum des Baus steht ein Turm, in dem sich, vor äußeren Blicken geschützt, die Wärter befinden. Kreisförmig herum arrangieren sich die Zellen, voneinander durch Wände getrennt, aber zum Inneren des Kreises hin offen. Von dem Turm aus ist jede Zelle einsehbar, ununterbrochen. Nur weiß kein Insasse, ob er wirklich gerade überwacht wird, da ihm die Blicke der Wärter verborgen bleiben.
Das Resultat? Eine Perfektion der Macht, die stets präsent ist, deren Ausübung aber überflüssig wird. In Foucaults bitterem Text finden sich gute Gründe dafür:
„Es geht darum, die Gesellschaftskräfte zu steigern – die Produktion zu erhöhen, die Wirtschaft zu entwickeln, die Bildung auszudehnen, das Niveau der öffentlichen Moral zu heben; zu Wachstum und Mehrung beizutragen.“
Nur müsse sich das Panopticum dazu aus dem Griff der Institutionen lösen und zur „allgemeinen Formel“ werden; zur Disziplinargesellschaft.
Work hard, play hard
China, 2015: Staats- und Parteichef Xi verkündet einen ersten Entwurf zum 13. Fünfjahresplan. Er gibt die Richtung vor, die für Wohlstand und Wachstum der Volksrepublik sorgen soll. Irgendwo in dem 27.000 Schriftzeichen starken Dokument wird, in der Länge einer Fußnote, auch etwas erwähnt, das sich am ehesten mit „soziales Kreditsystem“ übersetzen lässt. Das müsse vervollkommnet werden, heißt es. Darauf folgend, ein paar vage Erklärungen. Es geht um die Akkumulation persönlicher Daten zur Krisenintervention und um eine zentrale Verarbeitung.
Dabei ist das im Reich der Mitte eigentlich ein alter Hut. Schon unter Mao legte man Dossiers über Staatsbürger an, die um Bemerkungen über gutes oder schlechtes Verhalten ergänzt wurden. Trotzdem hört sich das neuartige Vorhaben anders an, eine Nummer größer; es geht um nationale Datenbanken und Algorithmen, um ein Tool zur Bekämpfung der hausgemachten Korruption und zur Ordnung der Gesellschaft.
Eineinhalb Jahre später sind die schattenhafte Züge verschwunden. An ihre Stelle treten Prototypen, Modellprojekte – und erste Resultate. Der Journalist Kai Strittmacher reist für die Süddeutsche Zeitung nach China (Bezahlartikel) und trifft dort auf auskunftsfreudige Innovatoren.
Einer Davon ist Huang Chunhui, Direktor des Amts für Kreditwürdigkeit der Kleinstadt Rongcheng (670.000 Einwohner). Er erläutert: Eine Gesellschaft habe eine Spitze und einen Boden. Letzteren müsse man erziehen. Und erziehen, das lehrt die Pädagogik, klappt am besten spielerisch.
Die Spieler, das sind in Rongcheng die Bürger, und zwar jeder einzelne, jederzeit. Zu Beginn des Spiels erhält jeder Spieler ein Punktekonto mit einem Startguthaben von 1000 Punkten. Diese Punkte repräsentieren im Verlauf des Spiels seinen gesellschaftlichen Status. Ist sie eine Musterbürgerin oder er eine Schande der Gesellschaft? Der Score entscheidet.
Durch alltägliche Handlungen oder Unterlassungen gewinnt beziehungsweise verliert der Spieler Punkte und steigt so in der gesellschaftlichen Rangliste auf und ab. Die Gewichtung erfolgt durch verschiedene Klassen, von AAA, dem „Vorbild an Ehrlichkeit“ (1050 Punkte), bis „unehrlich“ (< 599 Punkte).
Wer einen guten Score hat, der kriegt gewisse Vergünstigungen. Er muss zum Beispiel keine Kaution in der Bibliothek hinterlegen oder darf beim öffentlichen Fahrradleihsystem kostenlos radeln. Aber auch Rabatte im Internet, billige Flugreisen, gute Beförderungschancen oder günstige Kredite bei Banken sind Privilegien, die sich die Musterbürger in den über dreißig Pilotprojekten in China verdienen können.
Allerdings: Hat man das Vertrauen der Gemeinde erst einmal verspielt, kann das ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen. Öffentliche Denunzierungen sind der psychologische Aspekt. Es drohen aber auch gedrosseltes Internet sowie Einschränkungen beim Häuserkauf oder bei der Schulwahl für die Kinder. Ein Flug- und Zugfahrverbot bzw. die generelle Untersagung der Ausreise kann letztendlich sogar die Existenz eines Menschen ernsthaft bedrohen.
Gamification heißt es in der Wirtschaft und der Psychologie, wenn spielerische Elemente in nicht-spielerischen Kontexten zum Einsatz kommen. Im Falle des „social credit scores“ macht das System das Standing eines Individuums messbar. Was einer tut und sagt hat nun einen Wert, und aus den kumulierten Werten errechnet sich, ob er ein produktives Mitglied der Gesellschaft ist oder ein, wie Direktor Huang es ausdrückt, Vertrauensbrecher.
Vertrauen ist gut, Informationen sind besser
Vertrauen scheint das Stichwort zu sein. An dem nämlich mangelt es den Chinesen gewaltig. In dem Land, das auf dem internationalen Korruptionsindex von Transparency International auf Platz 79 steht, herrscht Unfriede. Jeder misstraut jedem. Aber besonders misstraut man der Regierung.
„Betrüger werden nicht zur Rechenschaft gezogen, die Staatsmacht selbst verletzt das Gemeinwohl.“
Wang Junxiu, Chinesische Akademie für Sozialwissenschaften (CASS)
Geschichten über bestechliche Parteikader, die sich an Land und Leuten bereichern, gibt es zu Hauf. Eine der abenteuerlicheren ist die von Tang Shuiyan. Die „chinesische Robin Hood“, die selbst aus der armutsgeplagten Unterschicht stammte, bestahl korrupte Funktionäre aus den höchsten Kreisen und ließ einige von ihnen auffliegen. Eine Erzählung mit Symbolcharakter; in einer Umfrage der Pekinger Wochenzeitung befanden 88 Prozent der Befragten, Tang sei eine „Heldin im Kampf gegen die Korruption“.
Den Kampf führt auch Regierungschef Xi seit seiner Amtsübernahme 2013 ganz laut und öffentlich. Das gegenseitige Vertrauen, so Xi, sei unerlässlich für den Wohlstand Chinas. Wer hier allerdings euphemistisch von Vertrauen spricht, meint eigentlich das genaue Gegenteil: Wissen.
Auch anderswo sichert man sich gerne ab, bevor man jemandem Vertrauen schenkt, besonders, wenn es um Geld geht. In Deutschland gibt es dafür die Schufa. Sie gibt Banken und anderen Dienstleistern Auskunft über die Bonität von potenziellen Kreditnehmern. In der Regel bezieht die Schufa ihre Informationen von Vertragspartnern, manche Daten holt sie sich jedoch aus öffentlichen Quellen. Kombiniert mit den Adressdaten einer Person setzt die Schufa deren Profil zusammen, das mit positiven und negativen Vermerken versehen wird: Zahlt jemand pünktlich seine Rechnungen, ist wer mit dem Abstottern seiner Kredite im Rückstand?
Aus den Vermerken ergibt sich ein Score, der die Kreditwürdigkeit des Verbrauchers beziffert. Bevor eine Versicherung oder ein Mobilfunkanbieter nun einen Vertrag mit diesem Verbraucher abschließt, können sie sich über dessen Schufa-Score informieren – und dann entscheiden.
Problematisch wird ein schlechter Wert bei der Schufa dort, wo es wichtig wird. Wer beispielsweise mal eine Privatinsolvenz angemeldet hat, wird so schnell keinen Kredit bei der Bank mehr bekommen, genauso wenig wie eine neue Wohnung.
Das Schufa-System kennt auch Zhang Zheng, der Dekan der ökonomischen Fakultät an der renommierten Peking-Universität. Das macht es einfacher, das geplante System zu erklären. Wie eine allumfassende Schufa müsse sich Reporter Strittmacher das vorstellen. Die nicht nur Zahlungsausstände, sondern das gesamte soziale und moralische Handeln einer Person analysiert. Ob jemand beispielsweise seine Eltern gut behandelt, sich in der Schlange vordrängelt oder Hilfe suchende Fremde abblitzen lässt, das alles soll in den sozialen Kreditscore mit einfließen.
Oder wie es der Generalsekretär des Parteikomitees für Politik und Recht ausdrückt: „Die Partei muss eine vollständige Sammlung von grundlegenden Informationen über alle Orte, alle Sachen, alle Angelegenheiten und alle Menschen anlegen: von den Trends und Informationen darüber, was sie essen, wie sie wohnen, wohin sie reisen und was sie konsumieren.“
Die Vermessung der Welt
Eine vollständige Sammlung von allem, sozusagen. Wie soll das möglich sein im bevölkerungsreichsten Land der Erde? Die Katalogisierung und Bewertung von 1,3 Milliarden Chinesen wird eine der größten Herausforderungen der Volksrepublik werden. Aber wie stellt man sich den Prozess des Projekts überhaupt vor?
Tatsächlich sollen Daten aus allen Lebensbereichen abgegriffen werden; neben Informationen wie Kreditkartenrechnungen oder Rechtsverstößen soll auch die Online-Aktivität der Bürger getrackt und ausgewertet werden. Dazu kommen noch private Faktoren wie Konsumgewohnheiten (national=gut, importiert=schlecht), der eigene Freundeskreis (sind deine Freunde gute oder schlechte Bürger?) oder Hinweise von Nachbarn auf soziales bzw. unsoziales Verhalten.
Alle diese Informationen werden vom Algorithmus, dem Herzstück des Projekts, analysiert, verrechnet und in einen Score gegossen.
Bei diesem gigantischen Ausmaß ist die Partei auf die Datenbanken und Infrastrukturen der privaten Konzerne angewiesen. Internetprovider, Mobilfunkanbieter und private Versicherungen müssen ebenso ihren Teil zum System beitragen wie öffentliche Ämter und Universitäten, wenn das Projekt gelingen soll. Mangelnde Kooperationsbereitschaft sollte in der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt allerdings kein großes Hindernis darstellen. Jack Ma, Chef von Chinas größtem E-Commerce-Konzern Alibaba wandte sich schon mahnend an den Sicherheitsapparat, der Staat müsse die nationalen Kapazitäten zum Datensammeln stärker nutzen.
Dass der Score nicht nur über den sozialen Status eines Menschen, sondern auch in nicht unbedeutendem Maße über seine Handlungsfreiheit bestimmt, ist bereits klar. Problematisch wird es, wenn man betrachtet, was es braucht, um in der Gunst des Systems auf- oder abzusteigen.
Bei Rot über die Ampel gehen, einen Hundehaufen auf öffentlichem Rasen hinterlassen, das führt in Rongcheng zu geringen Abzügen. Ernster wird es, wenn man unliebsame Dinge im Internet von sich gibt. Wer sich beispielsweise auf dem chinesischen Twitter-Pendant Weibo kritisch über die Regierung äußert, wird ein gutes Stück heruntergestuft. Dabei reicht die Einschätzung der Sicherheitsbehörden als Beweis des Ungehorsams, sie diktieren, was richtig und falsch im Sinne der Gesellschaft ist. Besonders oppositionelle Meinungsführer, Freigeister und Querdenker können so im Handumdrehen mundtot gemacht werden.
Aber auch ein Verstoß gegen die von der Partei verordnete Ein-Kind-Politik kann in einigen Gebieten zum Problem für die betroffenen Familien werden. Weniger Privilegien und öffentliche Ächtung bei steigender Familiengröße sind nicht eben der Garant für eine erfolgreiche Integration in die Gesellschaft.
Ähnlich sieht es andersherum aus. Wer sich im Sinne des Systems zu viele Fehltritte geleistet hat, kann durch gemeinnützige Aktivitäten wie Müllaufsammeln, Blutspenden oder andere Arten von Freiwilligenarbeit wieder ein paar Punkte wettmachen. Eigentlich ein nobler Ansatz, der aber leider zur Farce wird. Denn wer sich von seinen Sünden reinwaschen will, der benötigt eigentlich nur eins: Ein dickes Scheckheft. Besonders stark belohnt werden nämlich Spenden für einen guten Zweck, ab 500.000 Yuan (ca 65.000 Euro) aufwärts. Auch, wer daraufhin eine Auszeichnung vom Staat, also von der Partei, bekommt, steigt im sozialen Ranking noch einmal kräftig auf.
Mit diesen Spielregeln wird jeder gut gemeinte Gedanke des sozialen Kreditsystems praktisch hinfällig. Denn bei allen spielerischen Erziehungsversuchen stoßen doch zwei Aspekte sauer auf:
Erstens, wer im Internet seine Meinung kundtut, sollte darauf achten, dass sich diese mit den Ansichten der regierenden Elite deckt. Politisch Unliebsame können durch Parteifunktionäre willkürlich geächtet und praktisch handlungsunfähig gemacht werden. Das erstickt jede demokratische Idee im Keim – und fördert Duckmäusertum.
Zweitens, wer Geld hat, kann sich freikaufen. Die reiche Elite erhält so eine permanente Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei-Karte, die nicht nur im Vorhinein jedes Vergehen egalisiert, sondern auch gleichzeitig die höchste Anerkennung im staatlichen System garantiert. Verbunden mit den Auszeichnungen für vorbildhaftes Verhalten entstehen so offiziell Bürger erster Klasse.
In Trust we trust
Im Gründungsdokument des Pilotprojekts in Rongcheng heißt es: Die Vertrauenswürdigen sollen frei unter dem Himmel umherschweifen können, den Vertrauensbrechern aber soll kein einziger Schritt mehr möglich sein.
Was Vertrauen ist, das definiert die Partei allerdings immer noch selbst. Das ist auch der Grund, warum das System die Korruption im Land nicht verringern wird, im Gegenteil: Solang der Staat das Entscheidungsmonopol darüber hat, was gut ist und was nicht, solang es keine unabhängige bewertende Instanz gibt, wird das Vertrauensverhältnis zwischen Regierung und Regierten marode bleiben.
Der große Theoretiker Niklas Luhmann definierte Vertrauen einmal so: Seiner Meinung nach bestehe das Problem der Vertrauensbereitschaft nicht in einer Steigerung von Sicherheit unter entsprechender Minderung von Unsicherheit; es liege umgekehrt in einer Steigerung tragbarer Unsicherheit auf Kosten von Sicherheit.
Will heißen, jemandem zu vertrauen meint nicht, alle Eventualitäten zu beseitigen. Es meint tatsächlich genau das Gegenteil. Vertrauen eben.
Trotzdem wird im Reich der Mitte weiter fleißig getüftelt. Bis 2020 soll das soziale Kreditsystem flächendeckend integriert sein. Dann wird jeder Chinese zum Spieler im großen chinesischen Gesellschaftsspiel des Lebens. Ob die Wechselwirkung aus Vergünstigungen und Strafen der Kriminalität einen Abbruch tut, ob das soziale Miteinander herzlicher wird – man wird sehen. Zhao Ruiying, die Abteilungsleiterin des Modellprojekts in Shanghai, glaubt daran. Und sie hat eine eigene Vision:
„Vielleicht gelangen wir an einen Punkt, an dem keiner es mehr wagt, an einen Vertrauensbruch zu denken. Ein Punkt, an dem keiner mehr überhaupt auf die Idee kommt, unserer Gemeinschaft zu schaden. An dem Punkt wäre unsere Arbeit getan.“
Michel Foucault gefällt das.
Louis Koch
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