Vor wenigen Tagen wurde in London das erste Fleisch aus der Retorte gegessen und dieses Ereignis ist wie gemacht für eine Lebensmitteldiskussion vom Feinsten. Allein die philosophische Dimension lässt das Thema ins Feuilleton wandern und (noch) nicht auf die Politikseiten. Doch es ist absehbar, dass sich hier ein neues Feld für Verbraucherschützer und Verbraucher auftut.

Denn Verbraucherthemen sind in der Mitte von Gesellschaft und Politik angekommen – das  zeigt schon der ARD Markencheck:  Mit fünf bis sechs Millionen Zuschauern zählt er zu den beliebtesten TV-Formaten der Bundesrepublik. Bürgerinnen und Bürger fällen ihre Konsumentscheidungen immer bewusster. Warum ist der Verbraucherschutz dennoch noch nicht im Wahlkampf angekommen?

CC BY-SA 3.0 Ralf Roletschek

Verbraucher haben die Wahl

Anlässlich des Deutschen Verbrauchertags am 3. Juni in Berlin stellte der Bundesverband der Verbraucherzentralen eine Studie vor. Eines zeigt die Studie deutlich: Grundsätzlich fürchten die deutschen Verbraucher (und Wähler), übervorteilt zu werden. Untersucht wurden die vier Bereiche Lebensmittel, Gebrauchsgüter, Finanzprodukte und Energieversorgung. In den Bereichen Lebensmittel und am Finanzmarkt glauben fast zwei von drei Verbrauchern an große oder sehr große Missstände, also schädigende oder den Verbraucher täuschende Produkte. Bei Gebrauchsgütern sind es immerhin „nur“ 46 Prozent. Mehr als die Hälfte glaubt, dass Unternehmen für den Verbraucher nachteilige Produkte nicht vom Markt nehmen würde. Kein Wunder wünschen sich 92 Prozent der Verbraucher mehr Transparenz und eine Instanz, die ihre Interessen stark vertritt. Denn dem Staat fehlt der in den Augen der Verbraucher der Durchblick: 65 Prozent trauen ihm nicht zu, nachteilige Produkte schnell genug zu erkennen und auszusortieren.

Angesichts dieser Aufmerksamkeit und des anstehenden Wechsels der Verbraucherschutzministerin verwundert es auf den ersten Blick, dass das Thema im Wahlkampf bislang keine große Rolle spielt. Vier der fünf großen Parteien schenken dem Thema in ihren Wahlprogrammen eigene Kapitel mit Überschriften, die Verbraucher stärken wollen und Verbraucherschutz für alle versprechen. Zudem findet sich der „Verbraucher“ etwa doppelt so oft in den Programmen wie noch 2009 wieder.

Die Politik ist sich also einig, dass Verbraucherschutz an Bedeutung gewinnt – kein Wunder nach wiederholten Lebensmittelskandalen oder verbraucherschädigenden Preisabsprachen. Uneinigkeit herrscht jedoch weiterhin, wie der Staat die Verbraucher unterstützen soll. Liberalismus trifft auf staatliche Regulierung: Es gleicht einem Seiltanz, bei dem die Balance zwischen wahrgenommener Bevormundung und Befähigung der Verbraucher zu einer eigenständigen gut informierten Entscheidung zu gelangen, gefunden werden muss.

Die Verbraucherzentrale setzt auf die Macht der Verbraucher als Wähler und hat einen „Verbraucher-Wahl-O-Mat“ (www.verbraucher-entscheiden.de) ins Leben gerufen. Dabei kann jeder seine Stimmabgabe an der verbraucherfreundlichsten Politik ausrichten – oder zumindest an der, die die Verbraucherzentrale als solche hält.

Warum kam die Kampagne bislang nicht ins Rollen? Bislang spielen die Parteien aus Verbrauchersicht nämlich keine Glanzrolle:

Immerhin glauben noch 25 Prozent der befragten Verbraucher, dass sich die Grünen für sie einsetzen, gefolgt von der Union auf Platz zwei mit 9 und der SPD mit 8 Prozent. 24 Prozent glauben jedoch, dass sich keine Partei der Sache annimmt.

Die SPD witterte ein mögliches Wahlkampfthema und wagte mit starken Forderungen zum Verbraucherschutz den Vorstoß. Sie fordert „Marktwächter“, die in den Feldern Finanzen, Gesundheit, Lebensmittel, Energie und der digitalen Welt unlautere Praktiken aufspüren und Missstände an die staatlichen Aufsichten weitergeben. Mit der Mietpreisbremse versuchte SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, die Union auszumanövrieren und Momentum für seine Kampagne zu gewinnen.

Doch die Union nahm die Mietpreisbremse kurzerhand ins Wahlprogramm auf.

„Die Zeit der Katzentische für Verbraucherschützer ist vorbei.“

So proklamierte Bundeskanzlerin Angela Merkel das neue Denken der Union. Der Angriff verpuffte. Merkel war klug genug, hier keine Angriffsfläche zu bieten und SPD und Grünen eine Möglichkeit zur Profilierung zu nehmen. Zwar hat Bundeskanzlerin Merkel dem Thema nicht sehr viel Aufmerksamkeit gewidmet – doch in der Wahrnehmung liegt die Union immerhin knapp vor der SPD. Trotz gestiegenen Wählerinteresses und einer aus Verbrauchersicht allenfalls ausgewogenen Bilanz der Bundesregierung.

Die Parteien begreifen Verbraucher immer mehr als Wähler und beziehen sie stärker in ihre Wahlprogramme mit ein. Warum ist Verbraucherschutz kein Wahlkampfthema? Vielleicht, weil  er inzwischen politischer Common Sense ist und ohne Ereignisse wenig Reibungsfläche bietet. Bisher gelang es der SPD und besonders den Grünen als selbsternannter Partei der Verbraucher nicht, das Thema kampagnenfähig zu machen. Ein Skandal könnte den Verbraucherschutz allerdings noch zum Wahlkampfthema machen. Denn am 22. September können letztlich fast 62 Millionen Verbraucher wählen. 

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Christian Thams

Christian Thams

Christian Thams ist Chief Operating Officer Deutschland und Deputy Chair der EMEA Public Affairs Practice von Burson-Marsteller. Er verfügt über mehr als 15 Jahre Erfahrung in internationalen Agenturen in Berlin und Brüssel. Sein Fokus liegt auf den Bereichen Digitalisierung, Healthcare, Energie und International Affairs.