Adrian Rosenthal: lässt die Haustür zu.
Im letztjährigen US-Wahlkampf war das sogenannte Ground Game nach Ansicht vieler politischer Kommentatoren einer der wahlentscheidenden Faktoren, der vor allem Obama bei seiner Wiederwahl half. Nach dieser Lesart sind nicht TV- noch Online-Werbung die wirklich wichtigen Faktoren, sondern das sogenannte Canvassing, vulgo: Tür-zu-Tür-Wahlkampf.
Ebendiesem Haustürwahlkampf haben sich trotz den in regelmäßigen Abständen auftauchenden Plakatwäldern auch die Parteien im diesjährigen Bundestagswahlkampf verschrieben. Bei mir hat zwar noch niemand an der Haustür geklingelt, aber angeblich sollen die Freiwilligen ja schon unterwegs sein, um unwillige Wähler zum Gang an die Wahlurne zu motivieren. Ganz vorne mit dabei ist die SPD, die – vielleicht ermutigt durch den erfolgreichen Endspurt von Stephan Weil bei der Niedersachsenwahl – besonders konsequent auf das Canvassing setzt. Zur Vernetzung und Organisation im Mitmach-Wahlkampf nutzt die Partei dabei vor allem ein eigenes Portal, auf dem sich mittlerweile immerhin schon mehr als 14.000 Freiwillige registriert haben. Und einen eigenen Leitfaden mit dem Namen „Die SPD klopft an“ haben die Wahlkampfstrategen schon heraus gebraucht, in dem sie an die Tradition der „Willy-Wahlkämpfe“ erinnern, auf jüngste Erfolge bei Tür-zu-Tür-Aktionen verweisen und einen detaillierten Gesprächsleitfaden für die Freiwilligen in vorderster Front an bundesdeutschen Haustüren bereitstellen.
Auf lokaler Ebene kann das sicher gut funktionieren, vor allem wenn der (bekannte) lokale Kandidat persönlich an die Tür klopft. Diese Geschichten sind ja immer wieder und überall nachzulesen – und stimmen auch. Der direkte Kontakt zwischen Kandidat und Basis beziehungsweise Wähler ist in Wahlkämpfen oftmals unersetzlich. Doch im aktuellen Bundestagswahlkampf wird das Klopfen an der Haustür wohl oftmals unbeantwortet bleiben.
Peer Steinbrück beim Haustürwahlkampf © www.spd.de
Laut einer kürzlich vom Focus veröffentlichten Umfrage lehnt die absolute Mehrheit der deutschen Wähler diese Form von Wahlkampf deutlich ab: Zwei Drittel würden den Wahlwerbern der Parteien demnach nicht die Tür öffnen. Diese Ablehnung wird vor allem von den Wählern der beiden Volksparteien (und Kühen) geteilt, nur bei der Linkspartei gibt es eine Mehrheit, die bereitwillig öffnen würde.
Die Ablehnung beruht zum einen auf einer ganz anderen Wahlkampfkultur, wie Maik Bohne ja bereits an anderer Stelle richtig bemerkte. In den USA haben die meisten Häuser in den Vororten nicht einmal Gartenzäune – und einer der Nachbarn ist immer aktiv im Wahlkampf dabei und klingelt dann gegebenenfalls an der Tür. Da die Amerikaner Meister des Smalltalks sind, klappt dieser Wahlkampf auch, vor allem wenn die Freiwilligen wie im US-Wahlkampf dank ihrer umfangreichen Datenbanken bereits alles über die Person wissen, bei der sie anklopfen – und so einfach den richtigen Einstieg wählen können. Ein paar Plattitüden lassen sich so schnell austauschen.
In Deutschland? Da erwartet man bei unangemeldetem Klingeln den GEZ-Kontrolleur oder die Zeugen Jehovas. Tendenz zum Türöffnen: eher nicht.
Die Wähler hierzulande scheinen sich die Arena zur Interaktion mit Politikern und Parteien bewusst selber aussuchen zu wollen – sei es nun unter dem Sonnenschirm in der Fußgängerzone oder in sozialen Netzwerken. Die Haustür oder der eigenen Vorgarten gehören nicht dazu, vor allem nicht, wenn in der kurzen Zeit ein standardisierter Gesprächsleitfaden abgeklappert werden soll. Denn dass bald wieder Wahl ist, daran erinnert mich auch der Plakatwald.
Ich lass mich gerne eines besseren ob der Erfolgschancen von Tür-zu-Tür-Aktionen belehren, vor allem was die Mobilisierung wichtiger Stammwähler angeht, bei denen ja auch etwas Politikverdrossenheit herrscht.
Meine Haustür bleibt aber zu.
Adrian Rosenthal
Adrian Rosenthal ist Head of Digital and Social Media bei der PR-Agentur MSL Germany und war dieses Jahr zum ersten Mal beim Personal Democracy Forum. Er bloggt seit 2008 auf amerikawaehlt.de über US-Wahlkämpfe und Online-Campaigning.
Lutz Mache: bittet um Einlass.
Angst und Bange ist den meisten SPD-Wahlkämpfern vor den ersten Tür-zu-Tür-Hausbesuchen (#tzt). Wer will schon gern mit GEZ-Kontrolleuren und den Zeugen Jehovas verglichen werden? Ein kleiner Erfahrungsbericht zeigt, dass wie so oft Vorstellung (s.o.) und Realität (hier) miteinander kollidieren.
Es wirkt geradezu verrückt, dass die SPD in Zeiten von digitaler Vernetzung und Social Media sich an ihre glorreichen Willy-Wahlkämpfe zurückerinnert und an die Haustürklingel heimkehrt. Keine andere Wahlkampfform ist jedoch effektiver als der persönliche Kontakt vor Ort. Auch für erfolgreiche Wahlkämpfer aus den USA galt schon immer: "All politics is local". Mit Klemmbrett (schönes Wortspiel: Laptop Analog), Give-Aways und engagierten GenossInnen bewaffnet zog ich diese Woche aus, um potenzielle Wähler auf die Bundestagswahl und ihre Wahlkreiskandidatin Dr. Eva Högl hinzuweisen.
Erste interessante anekdotische Evidenz: Trotz “Plakatwald” (s.o.) gibt es immer noch Mitbürger, die nicht wissen, dass am 22. September Bundestagswahl ist. Zweite Überraschung:
“Ach, dit kenn’ ick doch aus’m Fernsehn!”
war eine der meistgehörtesten Entgegnungen auf das Klingeln. Wer hätte gedacht, dass allein die Berichterstattung über die Hausbesuche Aufmerksamkeit für Bürger geschaffen und uns einen hervorragenden Anknüpfungspunkt geliefert hat. Mit der Steilvorlage ist der Rest ein Kinderspiel.
Wo Licht ist, gibt es auch Schatten, aber nicht ein einziges Mal gehen Reaktionen über ein “Verzeihung, ich habe keine Zeit” oder “Ich möchte darüber nicht sprechen” hinaus. Für solche Momente gilt:
Wie sehr Vorhersagen und Umfragen (s.o.) von der Wirklichkeit abweichen können, hat die SPD 2009 schmerzhaft erfahren müssen. Doch zumindest im östlichen Berlin-Mitte haben von gut und gern 40 anwesenden Bürgern in etwas mehr als einer Stunde nur ca. fünf freundlich aber bestimmt auf ein Gespräch verzichtet. Hier trifft man vielmehr auf ältere Bürger, die schon aus Tradition weit links von der SPD wählen – Hauptsache, sie gehen wählen. Heftigste Reaktion:
“Bevor ich FDP wähle, erschieße ich mich lieber!”
Nicht angetroffene Bürger werden auf ihre verpasste Chance und weitere Kontaktmöglichkeiten hingewiesen, selbstverständlich unter Berücksichtigung ihrer Hinweise auf unerwünschte Werbung.
Für die SPD sind #tzt-Besuche auch ein willkommener Kommunikationsanlass. Die Kandidaten facebooken und twittern Hausbesuche noch live vor Ort, ein eigener Hashtag wurde dazu vom Willy-Brandt-Haus vorgegeben: #tzt. Auf dem ersten SPD-Tumblr werden neben anderen Wahlkampfaktionen auch Hausbesuche öffentlichkeitswirksam gesammelt.
Das Willy-Brandt-Haus hat fünf Millionen #tzt-Hausbesuche als Ziel herausgegeben. Zehn bis 25 Prozent aller Klingelversuche sollen einen Kontakt ergeben. Mittlerweile haben sich auf der Kampagnenplattform fast 15.000 Freiwillige eingetragen, die von 299 zumeist ehrenamtlichen Aktionskoordinatoren gesteuert werden. Befreundete Genossen aus dem Willy-Brandt-Haus berichten, dass bereits eine halbe Million Haushalte erreicht wurden. Und die heiße Wahlkampf-Phase kommt erst noch. Bis dahin wird weiter geklingelt, mal sehen, ob Herr Rosenthal mir die Haustür öffnen wird.
Lutz Mache
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