Das Thema am 9. Mai auf der Stage 8 der Re:publica lautete am frühen Abend eigentlich „Starten Frauen im Zug der Digitalisierung durch?“, moderiert von Julia Gebert. Das Publikum dachte zunächst an die Schlagwörter ‚Homeoffice‘, ‚Vereinbarkeit von Familie und Beruf‘ und ‚Emanzipation durch Selbstständigkeit‘. Doch die Diskussion glitt ab auf die Abgründe der Digitalisierung – und offenbarte stagnierende Vorurteile, auch bei einem Mitglied des Podiums.
Digitalisierung als Bedrohung
Dass die Armut in Deutschland vornehmlich weiblich ist, ist weitestgehend bekannt. Ursachen dafür sind häufig prekäre Jobs, zu denen Alleinerziehende gezwungen sind, die in Altersarmut münden. Die Digitalisierung, die die Automatisierung fördert, bedroht viele dieser prekären Jobs. Ulrich Reinhardt, der eine Professur für Empirische Zukunftsforschung am Fachbereich Wirtschaft der FH Westküste in Heide innehält, behauptet deshalb, dass nur die weniger gebildeten Frauen von Digitalisierung bedroht seien. „40 % aller Jobs unterliegen nicht dem Wandel“, so Reinhardt und erläuterte, dass Frauen heutzutage besserer Abschlüsse machen als Männer, studieren und so diesem Druck entgehen. Die Zukunft des Arbeitsmarktes sei ohnehin weiblich, sonst könne Deutschland nicht wettbewerbsfähig bleiben. Die Soziologin Tanja Carstensen widersprach ihm ihm, dass jeder Job von der Digitalisierung betroffen sei. Auch Lehrerinnen müssen sich mit diesem Thema beschäftigen, er verändere immerhin nachhaltig ihre Arbeitsmethoden und den Unterrichtsstoff.
“Frauen wollen Sicherheit“
Die Digitalisierung war und ist bis heute Nährboden für Gründer und Start-Ups. Kaum zu fassen, dass nur 13 % aller Gründer weiblich sind. Quantitativ sind Frauen und Männer gleichermaßen im Internet unterwegs, qualitativ ist jedoch noch lange keine Gleichberechtigung erreicht. „Frauen nutzen die Digitalisierung bewusst“, behauptet Valentina Kerst, doch sie sieht den Anstieg an weiblichen Fachkräften im digitalen Bereich mit einem kritischen Hintergedanken, „Wir kommen von einem niedrigen Niveau.“ Die Aufgabe sei, die Rolle der Frauen in der Branche flächendeckend zu fördern, damit die Zahl der Gründerinnen steige. Für Reinhard ist dies offenbar nicht erstrebenswert und generell unnatürlich: „Das ist einfach so.“ Jeder habe unterschiedliche Interessen, es gehe darum „was will der einzelne (…), Frauen wollen mehr Sicherheit.“ Die sei beim Gründen eines Unternehmens oder einer Führungsposition nicht zu garantieren. Außerdem gäbe es weibliche und männliche Interessengebiete, die dieses Geschlechter-Gefälle widerspiegle. Das überwiegend weibliche Publikum wurde bei dieser Äußerung das erste Mal unruhig, schließlich waren hauptsächlich Personen anwesend, die sich offensichtlich für Gründung und Digitalisierung erwärmen konnten.
Genderpay-Gap auch in der Digitalisierung
Als Soziologin musste Carstensen von Berufswegen Reinhardts Meinung zurückweisen und verwies darauf, dass es keine biologisch getrennten Interessensgebiete zweier Geschlechter gäbe, es handle sich um ein soziales Konstrukt. Es gehe aber auch nicht darum, dass alle das gleiche machen sollte, aber „alle sollten das gleiche in Erwägung ziehen können.“ Hinzukomme, dass Frauen nach wie vor in der gleichen Branchen schlechter bezahlt werden, auch, wenn sie die gleichen Jobs erledigen. Reinhardt sagte zunächst, dass die Berufe nicht schlechter bezahlt werden würden, Frauen seien nur häufiger in generell schlechter bezahlten Jobs angestellt. Aber man müsse auch an den sozialen Schock denken, den Männer erleiden, wenn eine Frau besser bezahlt werde als sie selbst, wenn sie nicht mehr die Sekretärin sondern die mittlere Managerin daten, die mehr Geld nach Hause bringen. „Das ist für Männer ein mittlerer Albtraum.“ Auch hier wurde es laut um Publikum, während Valentina Kerst, Mitglied des Beirates „Junge digitale Wirtschaft“ beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Reinhardt erklärte, dass es nach wie vor tatsächlich einen realen Genderpay-Gap bei ein und dem selben Job gebe. Dieser betrage bis zu 25 %. Kerst ist seit 16 Jahren im Internet tätig,und meint „am Anfang war es ganz knuffig“, dass Frauen Minderheit waren, doch das müsse sich jetzt endlich ändern.
Progressive Frauen im Netz
Es gibt tatsächlich Erfolgsgeschichten, die von dem Internet und feministischen Kampagnen gegen Sexismus und genderpolitischen Fragen erzählen. Zum Beispiel der Hashtag „Aufschrei“. Doch das Internet sei „von den Strukturen her (…) sehr stark auf Geschlechter gepolt“, findet Carstensen. „An vielen Stellen müssen wir uns als Männlich oder weiblich positioniere.“ Die Selbstdarstellung im Internet sei ebenfalls stereotyper als auf der Straße, die Inszenierung der eigenen Persönlichkeit auf das Geschlecht reduziert. Kerst fügt hinzu, dass die Top 10 der Gründungen von Frauen heteronormativ seien, z.B. Möbeldienstleiter seien, aber auch Blumenversand. Aber „Frauen scheitern deutlich weniger“, wenn sie denn einmal gegründet haben, „schaffen Arbeitsplätze“ und „machen sich mehr Gedanken viel nachhaltiger“ zu arbeiten.
Homeoffice: kein Allheilmittel
Auch wenn die Diskussion arg, aufgrund der stereotypen Ansichten und neoliberalen Denkmuster von Reinhardt stetig abzurutschen droht, schafft es Carstensen noch über das ‚Homeoffice‘ zu reden. Schließlich gilt es als die Lösung für Frauen, Familie und Beruf unter einen Hut zu bekommen. Doch tatsächlich verschleppe diese Form der Ausübung die Arbeit an sich, es gäbe kaum Möglichkeiten abzuschließen, arbeite tatsächlich immer mehr und fördere so Prekarisierung guter Arbeit. Stattdessen müssen Netzwerke gepusht werden, flexible Arbeitszeiten gefördert werden.
Sexismus und kein Ende in Sicht
Die Digitalisierung soll gerne als Fluch oder Segen bewertet werden.Tatsächlich ist sie ein Instrument, dass ebenfalls vorherrschenden Arbeitsmustern unterliegt. Und so wird die Digitalisierung nicht die Befreiung der Frauen im Alleingang möglich machen. Es gilt weiterhin Strukturen und Denkmuster aufzubrechen, die von Menschen wie Ulrich Reinhardt hochgehalten und als Normalzustand deklariert werden. So lange Fähigkeiten und Interessen in ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ eingeteilt werden, ist die Digitalisierung machtlos, auch wenn sie gute Grundlagen bietet.
Helena Serbent
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