Demokratie bedeutet, die Wahl zu haben – konkreter sich zwischen unterschiedlichen Optionen entscheiden zu können. Wie sieht es diesbezüglich bei der Gesundheitspolitik aus? Bieten die unterschiedlichen Parteien klar abtrennbare Ziele und Maßnahmen, zwischen denen sich die Wählerinnen und Wähler entscheiden können?

Mitgliedstaaten entscheiden

Die Europäischen Verträge geben einen ersten Aufschluss über diese Fragen. Die Europäische Gemeinschaft hat demnach die Aufgabe "bei der Festlegung und Durchführung aller Unionspolitiken und -maßnahmen […] ein hohes Gesundheitsschutzniveau" sicherzustellen (Art. 168 Abs. 1 AEUV). Des Weiteren soll "die Tätigkeit der Union […] auf die Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung, die Verhütung von Humankrankheiten und die Beseitigung von Ursachen für die Gefährdung der körperlichen und geistigen Gesundheit gerichtet" sein (Art. 168 Abs. 1 AEUV). Obwohl Handlungsfelder wie „die Bekämpfung der weitverbreiteten schweren Krankheiten" oder "die Erforschung der Ursachen, der Übertragung und der Verhütung dieser Krankheiten sowie Gesundheitsinformation und -erziehung" explizit genannt werden, ist das Maß an Gestaltungskompetenzen in der Gesundheitspolitik der Europäischen Union sehr begrenzt. Denn ihre Rolle ist darauf beschränkt, die Politik der Mitgliedstaaten zu ergänzen (Art. 168 Abs. 1 AEUV) sowie ihre Zusammenarbeit zu fördern und die Tätigkeit der Mitgliedstaaten, falls erforderlich, zu unterstützen (Art. 168 Abs. 2 AEUV). Die Mitgliedstaaten behalten damit grundsätzlich ihre Zuständigkeit und Verantwortung für diese Felder.

In Konsequenz sind die Wahlprogramme der Parteien in diesem Politikfeld nicht besonders ambitioniert gestaltet.[1] Die CDU spricht sich gegen eine Europäisierung im Gesundheitsbereich aus: „Wir wollen die Vielfalt der historisch begründeten und politisch gewollten nationalen Gesundheitssysteme und die Kompetenz, sie eigenverantwortlich zu gestalten, auch in Zukunft erhalten.“ Lediglich in Bereichen wie der Krankenhausplanung, der grenzüberschreitenden ärztlichen Versorgung oder in der medizinischen Forschung möchte sie die Zusammenarbeit stärken. Die Grünen sprechen sich ebenfalls für die Erhaltung der nationalen Souveränität bei der Gestaltung der Gesundheitssysteme aus und fordern ansonsten noch strengere Regeln gegen die Einflussnahme der Pharmafirmen und einen größeren Austausch in der Pflegepolitik. Die FDP will den europäischen Binnenmarkt vollenden, Wettbewerbshemmnisse abschaffen und Bürokratie abbauen. Die SPD dagegen tritt für weniger Deregulierung, Privatisierung und Liberalisierung und mehr soziale Gerechtigkeit ein. Freihandelsabkommen müssten rechtsstaatliche, soziale, ökologische oder Standards beim Verbraucherschutz sichern. Auf die Gesundheitspolitik gehen die beiden Parteien nicht weiter ein. Die Linke lehnt die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen – wie im Gesundheitssystem – ab. Sie hält eine Krankenversicherungspflicht für alle EU-Bürger für unverzichtbar. Die Rolle der europäischen Arzneimittelbehörde EMA will sie stärken.

Alles in allem scheint es für die Gesundheitspolitik bei der Wahl zum Europäischen Parlament 2014 um nicht viel bis nichts zu gehen, oder?

Fiskalisierung der Gesundheitspolitik

Forscher der britischen Universitäten Cambridge, Oxford und London haben vor wenigen Wochen ihre Studie „Greece's health crisis: from austerity to denialism“ (Griechenlands Gesundheitskrise: Von der Sparpolitik zur Realitätsverweigerung) in dem medizinischen Journal „The Lancet“ veröffentlicht. Den Autoren zu Folge hat die europäische Sparpolitik – als Bedingung für die Milliardenhilfen von der Troika aus EU-Kommission, EZB und IWF – während der seit sechs Jahren andauernden Krise in Griechenland verheerende Folgen für die Gesundheit der Bevölkerung hinterlassen. Die griechische Regierung musste ihre Ausgaben "schnell und drastisch" kürzen, heißt es in der Studie. Bei der Gesundheit lag die Vorgabe der internationalen Kreditgeber bei sechs Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung des Landes. Ähnlich – jedoch nicht ganz so drastisch – stellt sich die Situation in anderen Südländern wie Portugal, Spanien und Italien dar. Unabhängig von der Diskussion, ob nun die Sparpolitik das richtige Rezept gegen die Eurokrise ist, hat sie letztendlich unmittelbaren Einfluss auf die Ausgestaltung im Bildungsbereich, öffentlichen Dienst, Straßenbau, in der Forschung und der Entwicklungs- wie Sozialpolitik genommen.

Europa entscheidet also ganz maßgeblich über die Gesundheitspolitik seiner Mitgliedsstaaten. Auch wenn dies vielleicht nicht ursprünglich intendiert war, geschieht dies letztendlich über die Ausgestaltung der Finanz- und Fiskalpolitik der Europäischen Union: quasi über Bande. Für dieses Phänomen wurde der Begriff der „Fiskalisierung“ geprägt: demnach verläuft die Bewertung jeder politischen Entscheidung unter dem Gesichtspunkt ihrer Auswirkung auf das Defizit und die Eindämmung der öffentlichen Schulden. Das zentrale Thema des öffentlichen Diskurses und oberstes Gebot des politischen Handelns ist die Beförderung der Konsolidierung der staatlichen Haushalte.

Die Europäische Union verfügt also über eindeutige Gestaltungsmöglichkeiten bei der Gesundheitspolitik. Die demokratischen Wahlmöglichkeiten sind durchaus vorhanden, oder?

Nicht viel mehr als ein „Weiter so“

Dazu lohnt wiederum ein Blick in die Wahlprogramme der einzelnen Parteien zur europäischen Krisenpolitik.

Die CDU will den bisher eingeschlagenen Weg mit Stabilitäts- und Wachstumspakt, Fiskalpakt, Bankenunion und dauerhaftem Europäischen Rettungsschirm weiter verfolgen. Die Partei spricht sich für solide Staatshaushalte aus, wofür jeder EU-Mitgliedsstaat selbst verantwortlich sein soll. Wer gegen die vereinbarten Grenzwerte des Stabilitäts- und Wachstumspaktes verstößt, muss mit Sanktionen rechnen. Die hohen Staatsschulden der Euroländer sollen weiter zurückgeführt werden. Einer Schuldenvergemeinschaftung tritt die CDU entschieden entgegen. Eurobonds und Schuldentilgungsfonds lehnt sie ab. Kurz: ein „Weiter so“.

Die FDP fordert im Prinzip dasselbe. Die Währungsunion könne nur als Stabilitätsunion dauerhaft bestehen. Außerdem müsse jeder Mitgliedstaat jeweils für sich genommen die Stabilitätserfordernisse erfüllen. Die FDP setzt auf die garantierte Unabhängigkeit der EZB und eine eigenständige EU-Kommission, die Fehlentscheidungen der Mitgliedstaaten korrigieren soll. Den Einsatz der Rettungsschirme von EFSM, EFSF und später des ESM und des Internationalen Währungsfonds (IWF) sehen die Liberalen als Übergangslösung. Die Perspektive ist, mittelfristig die Stabilitätsunion wiederherzustellen. Die FDP will ein Insolvenzrecht für Staaten schaffen und damit den Austritt aus dem Euro ermöglichen. Am Verschuldungsverbot der EU hält die FDP fest. Kurz: „Weiter so, aber ein wenig strenger“.

Die SPD sieht dagegen in einer Sparpolitik allein kein Zukunftskonzept für die EU. Sie strebt jedoch weiterhin eine konsequente Konsolidierungspolitik für solide Finanzen und Reformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit an. Jedes Land soll weiterhin für seine eigenen Schulden haften. Das Verschuldungsverbot will sie nicht lockern. Die SPD fordert eine handlungsfähige Banken-Union und die Finanztransaktionssteuer. Für Banken und Finanzmärkte will sie bessere Regeln, mit denen z.B. riskante Geschäfte deutlich eingeschränkt werden können und Rating-Agenturen strenger kontrolliert werden. Kurz gesagt: „Weiter so mit Modifikationen im Finanzsektor“.

Die Grünen möchten die Europäische Investitionsbank zur Krisenbewältigung und als Instrument für Anreize zum nachhaltigen Wirtschaften nutzen. Projektbonds sollen für Investitionen eingesetzt werden. Diese nachfrageorientierte Politik wird jedoch mittlerweile parteiintern stark in Frage gestellt. In einem internen Strategiepapier verlangen Europaexperten der Grünen eine grundlegende Neuausrichtung ihrer Partei in der Euro-Krisenpolitik. Dabei geht es im Wesentlichen um ein Einschwenken auf den Kurs von Angela Merkel. „Kein Weiter so, oder vielleicht doch?“

Die LINKE grenzt sich noch am stärksten von den anderen Parteien ab. Demnach soll die „Kürzungspolitik der Troika gestoppt und sofort ein Kurswechsel in der Eurokrisenpolitik eingeleitet werden“. Länder, die Finanzhilfen erhalten, sollen statt Sozialkürzungen „hohe Vermögen und Spitzeneinkommen besteuern bzw. mit Abgaben belegen, um die Reichen an der Finanzierung der Krise angemessen zu beteiligen“.

Ansonsten finden sich noch Alternativen in kleineren Splitterparteien – jedoch nicht genug, oder eher nicht gut genug (wenn man an die Splitterparteien denkt), um wirklich alternative Wege zu beschreiten.



[1] Für den folgenden Artikel wurden exemplarisch die Wahlprogramme der deutschen Parteien für die Europawahl 2014 gesichtet. 

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Luka Kim

Luka Kim

Luka Kim ist seit 2012 bei Ketchum Pleon in Berlin und berät Kunden aus dem Gesundheitswesen und dem Telekommunikationsmarkt. Sein Beratungsschwerpunkt liegt im Bereich Public Affairs.
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