Es sind nur noch wenige Tage bis die Europäer die zweitgrößte, demokratische Volksvertretung der Welt wählen. Rund 400 Millionen Bürger aus 28 Mitgliedsstaaten haben die Möglichkeit, ihre Europaabgeordneten zu wählen – diejenigen zu wählen, die in den nächsten fünf Jahren die Grundlagen der Politik der Europäischen Union bestimmen.

Allein in Deutschland könnten 64 Millionen ihre Stimme abgeben. Die Betonung liegt hier leider auf könnten. Denn seit der Einführung der Wahl zum Europäischen Parlament als europäische Volksvertretung nimmt die Wahlbeteiligung kontinuierlich ab. Lag sie 1979 im Durchschnitt der damaligen Mitgliedsstaaten bei 63,0 Prozent und 65,7 Prozent in Deutschland, so ist sie bis zur letzten Wahl 2009 auf 43,0 Prozent gefallen. Zudem liegt die EU-Wahlbeteiligung in den meisten Mitgliedstaaten unterhalb derer bei nationalen Parlamentswahlen. Auch in Deutschland erreichen Bundestags- und Landtagswahlen eine höhere Beteiligung.

Folgendes ist erstaunlich: Während die Wahlbeteiligung seit 1979 kontinuierlich abnimmt, beobachten wir gleichzeitig eine kontinuierliche Zunahme der Kompetenzen des Europäischen Parlaments (EP). Das Parlament konnte im Vergleich zu den ersten Wahlen seine Aufgaben und Entscheidungsmöglichkeiten stetig ausbauen. Und selbst im Vergleich zu den Wahlen vor fünf Jahren, hat das Europäische Parlament seinen Einfluss vergrößern können. Dies liegt zu großen Teilen daran, dass der Vertrag von Lissabon und die damit einhergehenden Neuerungen erst nach der Wahl Ende 2009 in Kraft traten. Die Bürger haben nun also die Möglichkeit, die Besetzung einer Institution mitzubestimmen, die wesentlich gewichtiger ist als noch vor 35 Jahren.

Ich möchte nicht den x-ten Beitrag zu den Gründen der schwindenden Wahlbeteiligung schreiben. Vielmehr möchte ich einen letzten Call-to-Action im Endspurt zur Europawahl geben – Warum soll ich zur Europawahl gehen? Kann das Europäische Parlament im EU-Zirkus überhaupt etwas ausrichten?

Die folgenden ausgewählten Punkte sollen zeigen, welches Gewicht das Europäische Parlament innerhalb der EU einnimmt. Immerhin ist das EP die einzige direkt gewählte europäische Institution und hat somit die größte „demokratische Legitimation“.

Wahl des Kommissionspräsidenten

In den letzten Tagen und Wochen wurde insbesondere eine Neuerung in der Öffentlichkeit diskutiert: Der Ausgang der Wahlen zum Europäischen Parlament hat Einfluss auf die Wahl des Kommissionspräsidenten. Zwar können die Bürger, wie in den Medien oft suggeriert, den Präsidenten nicht direkt wählen, allerdings müssen die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten bei ihrem Vorschlag für dieses Amt das Wählervotum berücksichtigen (Art. 17 Abs. 7 EU-Vertrag). Das EP kann einen vorgeschlagenen Kandidaten ablehnen und einen neuen Vorschlag verlangen. Somit können die Wähler erstmals einen indirekten Einfluss auf die Besetzung dieses Spitzenamtes nehmen.

Legislativbefugnisse

Weniger in der Öffentlichkeit stehen die Legislativbefugnisse des Parlaments. Gemeinsam mit dem Rat der Europäischen Union übt das EP gleichgewichtig die Aufgabe des EU-Gesetzgebers aus. Der überwiegenden Mehrheit aller europäischen Rechtsakte muss das Parlament zustimmen, bevor diese gebilligt werden können. Die Ausbreitung des sogenannten Mitbestimmungsverfahrens hat das EP seit der Einführung mit dem Vertrag von Maastricht 1992 stetig vorangetrieben und auf eine Vielzahl von Politikfeldern ausgeweitet, u. a. wirtschaftliche Ordnungspolitik, Einwanderung, Verkehr, Umwelt- und Verbraucherschutz. Mit dem Vertrag von Lissabon wurde das Mitentscheidungsverfahren auch aus diesem Grund symbolisch in das Ordentliche Gesetzgebungsverfahren umbenannt und ist nun das wichtigste Rechtsetzungsverfahren des EU-Beschlusssystems.

Haushalt der Europäischen Union

Das Europäische Parlament wacht zudem über den Haushalt der Europäischen Union. So entscheidet es gemeinsam mit dem Rat über den gesamten EU-Jahreshaushalt. Hierbei haben die EU-Abgeordneten sogar das letzte Wort. Nach der Annahme des EU-Haushalts ist die Europäische Kommission für dessen Umsetzung zuständig. Das EP hat als Vertreter der EU-Steuerzahler hierbei die Aufgabe, die anderen EU-Institutionen zu kontrollieren und zu überwachen, dass die EU-Mittel angemessen und ordnungsgemäß verwendet und die EU-Rechtsakte korrekt ausgeführt werden.

Europa ist heute mindestens genauso wichtig wie die Arbeit eines nationalen Parlamentes. Das sollten die Wähler wissen.

Edmund Stoiber

Nicht zuletzt sollten wir im Kopf behalten, dass die vom Europäischen Parlament verabschiedeten Gesetze mitunter von hoher Alltagsrelevanz für uns sind. Ein aktuelles Beispiel hierfür sind die Kennzeichnung von Lebensmitteln und die Roaming-Verordnung. Der ehemalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber rechnete mit seiner EU-Task-Force zur Entbürokratisierung aus, dass der Anteil der nationalen Gesetze, die auf EU-Gesetzesvorhaben basieren, bei 80 Prozent liegt.

Vor diesem Hintergrund ist die niedrige und schwindende Wahlbeteiligung ein großes Problem, vor dem die EU und insbesondere das EP stehen. Seit 1979 hat sich die Wahlbeteiligung um satte 20,0 Prozent verringert. Ein noch niedrigerer Wert in den anstehenden Wahlen wäre ein Fiasko für die europäische Demokratie. Denn wie soll sich die einzige durch die Bürger legitimierte EU-Institution innerhalb der Machtstrukturen weiter etablieren, wenn niemand zur Wahl geht? Und das, obwohl die parlamentarischen Befugnisse und Aufgaben stetig wachsen. Wir müssen uns bewusst machen, dass wir durch eine geringe Wahlbeteiligung, durch das Nicht-Wählen, die Legitimation des Parlaments untergraben und unsere Stimme innerhalb der EU selbst schwächen. Also verschenkt eure Stimme nicht – es ist wichtiger denn je zur Europawahl zu gehen!

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Kristin Krause

Kristin Krause

Kristin Krause ist seit 2012 bei Ketchum Pleon in Berlin und berät dort insbesondere Kunden aus den Bereichen Energie und Daseinsvorsorge sowie der Gesundheitswirtschaft. Ihr Beratungsschwerpunkt liegt im Bereich Public Affairs.
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