Tilo Jung ist ein Journalist, den man leicht unterschätzt. Er sieht gut aus. Er redet schnell und reagiert noch schneller. Einer aus der Generation der Vieleszugleichkönner, ehrgeizig, ungeduldig – und Handwerker. Das hat er beim Nordkurier im Landkreis Demmin gelernt. Eine härtere (fünfjährige) Schule gibt es kaum im deutschen Printjournalismus. Man ist im drögen Norden ziemlich einsilbig, hart, aber herzlich.

Als Tilo Jung ein Auslandsjahr an einer amerikanischen Schule verbrachte, führte George W. Bush Krieg gegen den Irak. Das war die Zeit der „freedom fries“ und aus dem mecklenburgischen Lokaljournalisten wurde über Nacht ein Auslandskorrespondent.

Im Frühjahr 2013 entstand die Idee für Jung & Naiv. Tilo Jung und sein Produzent und Kameramann Alexander Theiler finanzierten das Projekt mit einer Startsumme von 6.000 €, die sie bei Krautreporter einwarben. Sieben Monate später stehen im YouTube-Kanal von Jung & Naiv 89 Interviews. Wie eine aufmerksame Beobachterin feststellte, sind davon achtzehn Interviews mit Politikern, die anderen Interviews führte Tilo Jung mit Fachleuten und Journalisten.

Im Juli schien der Wahlkampf noch weit entfernt und dümpelte so vor sich hin, als das Jung & Naiv-Team den nächsten Sprung wagte: ins Fernsehen, 30 Minuten am Stück, bundesweit empfangbar, montagabends um 20 Uhr. Die ersten beiden TV-Interviews fanden im Willy Brandt Haus und im Jakob Kaiser Haus statt: mit Peer Steinbrück und Jürgen Trittin. Sie waren ganz anders als das, was die Fernsehzuschauer aus ARD und ZDF kannten. Da rückte einer an seine Gesprächspartner, wie es aussah, zu nah heran, baute Distanz ab, wirkte auch übergriffig, indem er seine Gesprächspartner duzte. Sehr schnell machten die Interviews aber auch klar, dass die Format-Idee „Politik für Desinteressierte“ funktionierte.

Das liegt am genauen Rollenverständnis. Jungs direkte und schnelle Nachfragen zerbröseln das übliche politische Formelchinesisch. So können auch komplizierte Sachverhalte anschaulich und verstehbar werden. Die Zuschauer machen sich ein anderes Bild von den Politikern, ohne faule Kompromisse, Anbiederung, schrille Studioeffekte oder aufgebauschte Zeichensprache.

Fast zeitgleich mit dem TV-Start auf dem Sender joiz gewann das Jung & Naiv-Team mit Google Deutschland einen Sponsor. Bis zum Wahltag gab es neun Video-Chats mit Politikern, Fachleuten und Journalisten. Die Videochats – Hangouts auf der Plattform Google+ – konnten erstmals in Deutschland ein Tool ausprobieren, mit denen die Zuschauer live ihre Fragen an die Hangout-Gäste richten und die Fragen anderer Zuschauer bewerten. In jeder Folge, die nach dem Chat als YouTube-Video hochgeladen wurde, standen quer zum drögen Wahlkampf Sachthemen im Mittelpunkt. Das Thema Bildung, die Euro-Politik, Sicherheitspolitik, die Syrienkrise und die Position parteipolitisch unabhängiger Kandidaten dokumentieren eine andere Agenda als der bisher gewohnte Politikjournalismus, der der Politik auf andere fatal wirkende Weise zu nah gekommen ist.

Nach der Wahl geht es bei Google+ noch bis zum Jahresende weiter. Jung & Naiv wird während der Koalitionsverhandlungen nicht jedes Ach und Och aufgreifen, sondern wieder auf Sachthemen eingehen: Was gehört auf die Agenda der nächsten Bundesregierung? Wenn dann ein Koalitionsvertrag zustande gekommen ist, gibt es eine andere Grundlage für Nachfragen.

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Hans Hütt

Hans Hütt

Hans Hütt, geboren 1953 in Düsseldorf, studierte Politikwissenschaft, Vergleichende Literaturwissenschaft und Religionswissenschaft in Tübingen und Berlin. Er ist Autor des FAZ-Feuilletons, der taz, des Rhetorik-Blogs und bei Wiesaussieht. Seit Juli 2013 ist er Redakteur von Jung & Naiv.
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