Die Volksparteien schrumpfen. CDU und SPD haben seit 1990 jeweils fast die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. Auf den Webseiten beider Parteien gibt es zahlreiche Möglichkeiten, diese zu unterstützen. Die BürgerInnen dürfen gern spenden oder online Bildmotive teilen, aber um sich auch inhaltlich einbringen zu können, müssen sie Mitglied werden. Sonst geht gar nichts.

Vollmitgliedschaft oder gar nichts.

Für CDU und SPD sind Mitgliedschaften nach wie vor die Voraussetzung für Partizipation. Werde Mitglied und gestalte mit, so lautet das Versprechen. Warum es sich überhaupt lohnt Mitglied zu werden, was man erreichen und wo man sich konkret einbringen kann – das steht da nicht. Was ist denn mit Menschen, die sich für bestimmte Bereiche interessieren, die Vorschläge und Anregungen einbringen, aber nicht unbedingt oder sofort Vollmitglied einer Partei werden wollen? Es gibt keine Themenbereiche, auswählbar nach individuellem Interesse, keine Themenpaten, an die man sich wenden könnte, mit konkreten Ideen, Vorschlägen oder Fragestellungen, keine Themenprojekte, in denen man zuerst einmal mitgliedschaftsunabhängig sein Fachwissen einbringen könnte usw. usf. Es gilt: Vollmitgliedschaft oder gar nichts.

Aus Sicht der Parteien ist das natürlich nachzuvollziehen und trotzdem reicht es nicht aus, wenn es darum geht, Menschen für Politik und Parteien zu interessieren. Menschen committen sich heutzutage auf Themen und nicht unbedingt auf eine Partei in Gänze und so möchten sie sich auch einbringen. Die Aussicht, die Niederungen der Kommunalpolitik in den verrauchten Hinterzimmern von Speisegaststätten in Ortsvereinssitzungen auszudiskutieren – das schreckt eher ab und vor allem widerspricht es fundamental den heutigen Erwartungen an Beteiligung. Denn die muss heute vor allem niedrigschwellig, schnell und nachhaltig sein. Und genau davon lösen Parteien nichts ein.

Um Menschen für die Politik der jeweiligen Partei zu interessieren und für die Arbeit in ihr zu motivieren, müssen die Parteien beginnen, sich punktuell zu öffnen und thematische und kommunikative Höhepunkte anzubieten.

Erst interessieren, dann motivieren, erst dann mit dem Parteibuch winken.

Einer dieser Höhepunkte sollte die Wahl der SpitzenkandidatInnen für die höchsten Ämter unseres Landes sein. Nachdem Angela Merkel erklärt hat, zum vierten Mal als Kanzlerkandidatin für CDU ins Rennen der Bundestagswahl 2017 zu gehen, blicken nun alle auf die SPD und fragen: Wer wird es denn nun? Sigmar Gabriel oder vielleicht doch Martin Schulz? Es gibt ein echtes Interesse auf die Beantwortung dieser Frage und man könnte dieses Interesse nutzen und zu einem echten politischen Momentum steigern, wenn sich die SPD klüger anstellen würde, als sie es gerade tut.

Eine großartige Möglichkeit, Begeisterung für den Kanzlerkandidaten zu stiften wäre es, ihn selbst bestimmen zu können.

Laut offizieller Sprachregelung wird die SPD Ende Januar auf einer Vorstandsklausur über den Spitzenkandidaten entscheiden. Das heißt faktisch, dass 35 Mitglieder des Parteivorstandes darüber entscheiden werden, welcher Spitzenkandidat für die 450.000 SPD-Parteimitglieder um die Stimmen von knapp 61 Millionen Wahlberechtigten werben soll. Diese Zahlen belegen ein unglaubliches Missverhältnis zwischen Vertretungsanspruch und Mehrheitsrealität und vor allem eine unglaubliche vergebene Chance: Eine großartige Möglichkeit, Begeisterung für den Kanzlerkandidaten zu stiften wäre es, ihn selbst bestimmen zu können. Dass statt 35 alle rund 450.000 Mitglieder der SPD entscheiden. Um Umfragezahlen zu verbessern, musst du die Menschen begeistern. Mit deinen Themen, mit deinen Personen und mit deiner Haltung. Du musst sie mobilisieren. Und für die SPD gilt insbesondere: Du musst erst einmal deine eigenen StammwählerInnen und sogar Mitglieder bewegen, damit sie sich zur Wahlurne aufraffen. Denn viel zu oft blieben sie bei den letzten Bundestagswahlen zu Hause, ausgebremst durch die asymmetrische Demobilisierung der CDU.

Es gibt de facto kein gutes Argument gegen eine Mitgliederbefragung

Und dass die Mobilisierung funktionieren kann, wenn man den Menschen Raum zur Partizipation lässt, beweist zum Beispiel das Mitgliedervotum der SPD zum Koalitionsvertrag 2013, bei dem es eine Wahlbeteiligung von 78% aller Mitglieder gab. Und nicht nur das: Die SPD hat die medialen Themen bestimmt, hat mit der Drohkulisse auf ein mögliches Scheitern des Mitgliedervotums einen Koalitionsvertrag mit der CDU ausgehandelt, der als machtpolitisches Meisterstück gelten kann und Geschichte in der Parteienmitbestimmung geschrieben. Am Ende stimmten 76% der Mitglieder für eine weitere große Koalition. Die Parteispitze hat sich mit dem Votum also auch das Vertrauen erarbeitet, das die damals so verunsicherte Partei dringend brauchte.

Gebt die Wahl frei!

Die SPD verzichtet bei der Wahl ihres Kanzlerkandidaten auf dieses Werkzeug und damit nicht nur auf eine Möglichkeit zur internen Mobilisierung, sondern auch auf einen ersten wichtigen, bundesweiten Kampagnenaufschlag, der die Umfragewerte der Partei bis zum Wahlabend im September nach oben korrigieren könnte. Es gibt de facto kein gutes Argument gegen eine Mitgliederbefragung, nur die Angst vor der Debatte innerhalb der Partei. Diese Debatte aber bräuchte es, um die Perspektive auf die SPD zu verändern.

Möchte man noch mehr Potenzial heben, könnte man noch einen Schritt weiter gehen, so wie es jetzt Frankreichs Konservative vorgemacht haben, indem sie die Kandidatenfrage gleich ganz öffneten. Alle, die sich den konservativen Werten verbunden fühlen, konnten mitbestimmen. Mit dem Ergebnis, dass zum ersten Mal wieder über unterschiedliche politische Konzepte innerhalb eines politischen Spektrums diskutiert wurde, vor allem aber, dass plötzlich nicht mehr nur noch über einen möglichen Sieg von Marine Le Pen gesprochen und geschrieben wurde. Die gesamte Debattenkultur hat sich über die Vorwahlen hinweg landesweit verändert, zugunsten der konservativen Partei. Und dass die Öffnung von Politik auch noch eine neue Debattenkultur hervorbringt wäre ja hier nun eh ein ziemlich erstrebenswerter Kollateralschaden.

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Mathias Richel

Mathias Richel

Creative Director bei Torben, Lucie und die gelbe Gefahr (TLGG) GmbH
Mathias arbeitet als Creative Director bei Torben, Lucie und die gelbe Gefahr (TLGG) GmbH in Berlin. Dabei verbindet er seine Erfahrungen als Strategie- und Kommunikationsexperte mit seiner euphorischen Begeisterung für digitale Transformation und die Chancen der Digitalisierung unserer gesamten Gesellschaft. Klingt kompliziert, ist aber geil.
Mathias Richel

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