Berlin ist anders, und hat auch so gewählt – und am Tag nach der Wahl sieht man fast nur Verlierer, mit eher ratlosen Gesichtern. Die Koalitionsoptionen sind überschaubar, und auch auf Bezirksebene hat sich mit der AfD ein neuer Akteur positioniert, der zu stark ist um einfach ignoriert werden zu können.

Für eine andere, nicht wahlkampfgetriebene Einschätzung hat sich wahl.de im politischen Berlin umgehört und bei professionellen Politikberatern und Medienmachern gefragt, was das Berliner Wahl-Ergebnis für die nächsten Wochen, die Berliner Parteispitzen und die bevorstehende Bundestagswahl bedeuten kann.

Slogans ohne Charisma

„Im Wahlkampf mangelte es zwar nicht an Slogans, es fehlten aber charismatische Kandidaten“ fasst auch Daniel Florian von g+ germany den Wahlausgang zusammen. Aus Sicht von Kommunikationsberater Christof Fischoeder sei die nun abgewählte Regierungskoalition sogar mit einem blauen Auge davon gekommen: „Als amtierender Innensenator das Thema Sicherheit stark zu machen, ist gelinde gesagt mutig. Da überrascht das Wegsacken nicht.“ „Schlechte Wahlergebnisse sind das Ergebnis schlechter Politik.“ pflichtet Sebastian Frevel von Advice Partners hier bei.

Berlin ist anders – und selbst Schuld

Einigkeit herrscht bei der Frage nach den Ursachen. Axel Wallrabenstein von MSL Germany fasst das mit „Berlin ist anders“ zusammen. Ausschlaggebend seien primär Berliner Themen gewesen, nicht „die AfD und nicht die Bundespolitik“ findet u.a. Katharina Hamberger, Korrespondentim im Hauptstadtstudio des Deutschlandradio. Auch Christian Thams von Burson-Marsteller meint: „Die Themen, die die Stadt bewegten, spielten im Wahlkampf eine große Rolle“. Lars Petersen, Chefreporter bei B.Z. und BILD wird da noch konkreter: „die Ursachen [sind] vor allem Berlin-spezifische Themen: schlechte Verwaltung, BER, Lageso, Bürgeramts-Chaos.“

Das in Berlin einiges im Argen liegt wurde im Wahlkampf intensiv kommuniziert, aber „keiner der beiden Spitzenkandidaten konnte Antworten darauf liefern“ resümiert Judith Kleinemeyer von FleishmannHillard. Am Wahltag war aus Sicht von Laura Himmelreich von Vice vielen Berlinern klar, „sie müssen sich bei der Wahl nicht für eine Partei entscheiden, sondern für das kleinste Übel“

Sechs-Parteien-Parlament – die Stunde der Strategen

„Alles steht auf dem Prüfstand“ blickt Jan Böttger von 365 Sherpas in die kommenden Monate, und erwartet, dass „der Kampf um Koalitions- und Machtoptionen im Bund an Dynamik“ gewinnt. Mit Blick auf mögliche Koalitionen fragt sich Henning Kruse von WELT Kompakt: „Wer soll diesen Flickenteppich regieren?“. Jan Thomsen von der Berliner Zeitung prophezeit „kämpferische fünf Jahre.“ Sebastian Frevel erwartet von einer Dreier-Koalition „zwar eine rechnerische Mehrheit, aber keinen sachpolitischen Konsens. Das wird zu sehr eigenständigen Ressorts führen.“
Für Mark Stanitzki von fischerAppelt ist nun auf jeden Fall klar, „dass das Bilden einer Großen Koalition aus CDU und SPD als „Notlösung“ nicht mehr selbstverständlich ist“
Geradezu „das Ende der klassischen Volksparteien“ erwartet Thomas Steinmann von Capital.

Alles auf Rot-Rot-Grün

Teresa Bücker von Edition F sieht „Euphorie über eine mögliche Rot-rot-grüne Koalition“, für alle Kommentatoren ist dies auf jeden Fall die einzig sinnvolle bzw. machbare Zusammensetzung. Fischoeder sieht hierin die „Sehnsucht der Menschen nach der Linkspartei“ genauso befriedigt wie die Erkenntnis, dass „grüne Themen Common Sense geworden sind“. Thams erinnert, dass Müller bereits „im Wahlkampf aus seiner Sympathie für ein rot-rot-grünes Bündnis keinen Hehl“ machte.
Das „Rot-Rot-Grün – als Alternative zur Alternative – jetzt mehr als ein Gedankenspiel“ sei erkennt auch Böttger, der wie Frevel eine neue, „prinzipiell koalitionsfähige Mitte aus CDU, SPD, FDP, Grünen und Linken“ erkennt. Stanitzki erkennt darin „Zeichen der Unsicherheit“.

„Wer Rechtspopulisten gewählt hat, bekommt jetzt eine tiefrote Regierung“ stellt Wallrabenstein dazu trocken fest. „Das macht zwar Regieren nicht einfacher, spiegelt aber ganz gut den Wahnsinn und die Vielfalt dieser wundervollen Stadt wider“ sekundiert Himmelreich.

Führungswechsel

Ruth Ciesinger vom Tagesspiegel ist sich gar nicht sicher, „dass der Regierende Bürgermeister lange Michael Müller heißen muss“ während ihr Kollege Petersen davon ausgeht: „Die Tage von CDU-Chef Frank Henkel sind gezählt“. Tenor ist, dass die Parteien und damit ihr Spitzenpersonal das Ergebnis nicht auf äußere Faktoren schieben können. Henkel sollte nicht weiter „an seinem Stuhl kleben“ fordert Hamberger, und wenn Müller sich als Wahlsieger feiert, dann ist das nicht nur für Kruse „kurios“. Das Personalkarussell hat sich in Bewegung gesetzt – wir dürfen gespannt sein, wen es zuerst abwirft.

Merkel, Bundesrat, 2017

Der Fokus auf Berliner Themen dämpft natürlich die Sprengkraft für die v.a. CDU-interne Debatte rund um Merkels Flüchtlingspolitik. Ganz weg ist sie natürlich dadurch nicht. „Die Parteien haben bislang keine wirksame Strategie gefunden“ (Bücker) im Umgang mit der AfD, aber die Angst geht um, was auch die neuen Koalitionskonstellationen bedeuten. Ausführlich lassen sich Böttger, Kleinemeyer und Frevel darüber aus, Konsens: es wird spannend und brüchig. Wesentlich konkreter aber ist, dass die CDU im Bundesrat bald „keine Rolle mehr“ (Frevel) spielt.

Als Vorlauf für das Wahljahr 2017 verstärkt die Berlinwahl zahlreiche strategische Debatten, von Rot-Rot-Grün über das konkrete Thema Flüchtlingspolitik bis hin zur Feststellung, dass farbloses Spitzenpersonal zu farbenfrohen Koalitionen führt.

Die Aussagen der Politikberater und Medienmacher im Wortlaut:

Politikberater



Daniel Florian

Account Director, g+ germany


Die CDU ist mit der Berlin-Wahl im gleichen Tal der Tränen angekommen, in dem die SPD schon seit spätestens 2013 ist. Dass die CDU-Parteispitze gestern Abend lieber auf die noch größeren Verluste der SPD verwies zeigt jedoch, dass diese Erkenntnis noch nicht im Konrad-Adenauer-Haus angekommen sind. Dabei stimmt: fast alle Parteien sind gestern abgestraft worden, freuen kann sich keiner. Im Wahlkampf mangelte es zwar nicht an Slogans, es fehlten aber charismatische Kandidaten und ein Narrativ, das den Bürgern die grundlegenden Ideen der Parteien nahebrachte. Das gilt für das Land Berlin, aber auch den Bund.


Christof Fischoeder

Kommunikations- und Politikberater für Verbände, Unternehmen und NGOs.


Alle haben wie immer gewonnen. Das freut mich für die tapferen Wahlkämpferinnen. Und Wahlkämpfer. Denn unterscheidbar waren die Parteien nur in Details. Ich fand die Entscheidung echt schwer.

Überraschend finde ich, dass die Erstwahl vom Regierenden Müller trotz Einbußen mit erträglichen Verlusten gut ausgegangen ist. Gerade bei der langen Regierungszeit scheint die SPD nicht so schlecht da zu stehen.

Auch dass die CDU ohne klare Botschaften noch fast 20 Prozent schafft, ist doch gut? Als amtierender Innensenator das Thema Sicherheit stark zu machen, ist gelinde gesagt mutig. Da überrascht das Wegsacken nicht.

Stark ist die Sehnsucht der Menschen nach der Linkspartei und der FDP. Mit rotrot lief es besser, das honorieren die Wählenden deutlich. Und als freche Neuauflage hat die FDP erfolgreich debütiert. Sie haben ja auch in den Ländern gefehlt.

Die grünen Potenziale wurden wieder nicht gehoben. Das Ergebnis spiegelt aber wider, dass grüne Themen Common Sense geworden sind. Und das Personalangebot war verwirrend.

Ich finde es gut, dass Berlin seine Agenda nicht von der AfD bestimmen lies. Da bin ich sehr gespannt, was die konkrete Arbeit in den Bezirken zeigen wird.


Axel Wallrabenstein

Chairman, MSLGROUP Germany GmbH


Die unbeliebteste Landesregierung in Deutschland wurde abgewählt und die SPD feiert sich mit knapp 22% und 7% Verlust als Wahlsieger. Die CDU wurde zwischen AfD und mangelnder Kommunikation ihrer Erfolge sowie einem blassen Spitzenkandidaten zerrieben. Grüne konnten als Oppositionspartei kaum profitieren. Berlin bleibt und ist anders. Wer Rechtspopulisten gewählt hat bekommt jetzt eine tiefrote Regierung. Das dürfte für 2017 aufhorchen lassen. Das Parteiensystem verändert sich und die etablierten Parteien müssen hierauf kreativ und strategisch reagieren. Personen entscheiden.


Sebastian Frevel

Geschäftsführer, ADVICE PARTNERS


Die simple Botschaft für die Berliner Landes-SPD und –CDU lautet: Schlechte Wahlergebnisse sind das Ergebnis schlechter Politik. Die führenden Köpfe müssen Probleme eindeutiger benennen und Handlungsfähigkeit beweisen. Sie sollten sich nicht in medialen Hypes verkämpfen.

Bundespolitisch lässt sich festhalten: Die CDU spielt im Bundesrat bald keine Rolle mehr! Aber kurzfristig sind keine Beben zu erwarten: 15% AfD sind zu bewältigen und Angela Merkel wird sich auch von dieser Wahl nicht beirren lassen.

Es formiert sich eine neue prinzipiell koalitionsfähige Mitte aus CDU, SPD, FDP, Grünen und Linken. Dies eröffnet der SPD breite Koalitionsoptionen. Für die CDU wird ein klassischer Lagerwahlkampf schwieriger.

Für die Lobby werden LINKE, GRÜNE und FDP immer wichtiger. Denn wer regieren will, braucht mindestens zwei Partner.

Aus Wahlergebnissen entstandene vielfarbige Koalitionen bilden zwar eine rechnerische Mehrheit, aber keinen sachpolitischen Konsens. Das wird zu sehr eigenständigen Ressorts führen.


Judith Kleinemeyer

Head of Public Affairs, FleishmanHillard


Die Ergebnisse der Berlin-Wahl werden nun in einem Atemzug mit der Meck-Pom Wahl genannt: Merkel Bashing, Erosion der Volksparteien, Etablierung der Afd, so die gängigen Schlagworte. Dabei sind beide Bundesländer nicht unbedingt ein Trendbarometer für die deutsche Politik oder gar die Bundesebene. In Berlin wurde eine offensichtlich zerstrittene Große Koalition mit wenig charismatischen Köpfen abgewählt – die Probleme der Stadt sind zahlreich und offensichtlich. Keine der beiden Spitzenkandidaten konnte Antworten darauf liefern – keinem gelang, aus dem etablierten Politikdenken auszubrechen und die Menschen abzuholen.
Die auch personellen Veränderungen, die nun nötig wären, wenn Regierungsparteien rund 12% der Stimmen einbüßen, muss dabei nicht auf Bundesebene erfolgen, sondern auf Landesebene. Die politische Elite, die derzeit laut nach einem Wechsel der Merkelschen Politik schreit, ist derzeit nicht nur aufgrund dieser Wahlergebnisse hochnervös, sondern auch, weil (landtags-)Mehrheiten zu brökeln drohen, innerparteiliche Machtkämpfe und Bundestagswahl-Nominierungskämpfe toben.
Mit ein, zwei weiteren Parteien im künftigen deutschen Bundestag wird es für die bisherigen dort vertretenen eng: Viele Politiker werden in ihren Wahlkreisen bzw. über die Landesliste nicht wiedergewählt werden. Da fällt es leicht, prominente Köpfe dafür verantwortlich zu machen. Oder Wähler, die die AfD wählen, einfach als rechts-konservativ abzutun.
Die Gründe für den Wahlausgang in Berlin sind vielschichtiger als sie nun in den Medien und von den Parteien kolportiert werden. In erster Linien sind sie in Berlin zu suchen. Hier haben die beiden großen Volksparteien an die AfD verloren – schaut man auf die Gründe für die Wählerwanderung, sind diese nicht nur in der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik zu finden. Berlin hatte zuletzt auch die Piraten, diese haben sich selbst abgeschafft. Gleiches bleibt für die AfD zu hoffen – aber einer Hoffnung sollten immer Taten vorangehen. Und diese Taten sind nun gefordert.


Christian Thams

Chief Operating Officer, Burson-Marsteller GmbH


Die Berliner haben den bisherigen Regierungsparteien SPD und CDU einen klaren Denkzettel verpasst. Beide Parteien haben historisch schlechte Ergebnisse in einer Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus eingefahren. Die Große Koalition ist damit abgewählt, was angesichts der Unzufriedenheit der Berliner mit dem Senat nicht sehr überraschend ist. Die Themen, die die Stadt bewegten, spielten im Wahlkampf eine große Rolle: der Dauerbrenner Flüchtlinge wie auch der immer noch nicht eröffnete Flughafen BER und die Probleme in den Bürgerämtern. Da die SPD weiter den Regierenden Bürgermeister stellen und die CDU aus dem Senat ausscheiden wird, ist die gefühlte Niederlage der Christdemokraten größer und wird erneut auch Bundeskanzlerin Merkel zugeschrieben.

Die Wahlkämpfe waren zwar stark auf die jeweiligen Spitzenkandidaten Michael Müller (SPD) und Frank Henkel (CDU) zugeschnitten. Das Wahlergebnis hat in Berlin jedoch gezeigt, dass ein Personenwahlkampf nicht immer hilft.

Mit der vorerst letzten Landtagswahl im Jahr 2016 wurden sechs Parteien in das Berliner Abgeordnetenhaus gewählt. Eine Regierungsbildung ist nur unter Beteiligung von drei Parteien möglich. Drei-Parteien-Koalitionen werden anscheinend zu einem neuen Normalfall.

Der alte und neue Regierende Bürgermeister Michael Müller machte bereits im Wahlkampf aus seiner Sympathie für ein rot-rot-grünes Bündnis keinen Hehl. Die Berliner Wahl zeigt damit eine Alternative zu Regierungsbündnissen unter Beteiligung der CDU. Ob R2G als Machtoption links der Mitte eine Alternative zur Großen Koalition im Bund wird, liegt jetzt an den drei Bundesparteien.

Erneut konnten viele Wähler aus dem Nichtwählerlager zum Gang an die Urne bewegt werden. Die Wahlbeteiligung stieg um fast 7 Prozent. Am meisten profitieren konnte davon die AfD, die mit 14,2 Prozent in ein weiteres Landesparlament einzieht. Die AfD hat damit das bislang stärkste Ergebnis in einem Stadtstaat erzielt, vor allem in den östlichen Bezirken. Den Wiedereinzug feierten die Freien Demokraten mit 6,7 Prozent. Beide Parteien, FDP und AfD, nehmen damit weiter Kurs auf den Einzug in den Bundestag.


Jan Böttger

Managing Partner, 365 Sherpas


Mit der Berlin-Wahl gewinnt der Kampf um Koalitions- und Machtoptionen im Bund an Dynamik. Die Stunde der Strategen hat geschlagen, da Mehrheiten immer schwerer zu organisieren sind. Im Spannungsfeld zwischen GroKo-Verdruss, schrumpfenden Volksparteien, Sechs-Parteien-Parlament, Nichtwähler-Mobilisierung und starker AfD sind neue Optionen gefragt. Nun ist vieles möglich, was lange Zeit undenkbar schien. Insbesondere Rot-Rot-Grün – als Alternative zur Alternative – ist jetzt mehr als ein Gedankenspiel. Dafür müssten die beteiligten Parteien bis zur Bundestagswahl allerdings noch einige Dealbreaker aus dem Weg räumen. Um R2G zu verhindern, muss die Union schnellstens einen Weg aus der Flüchtlingsdebatte finden. Setzt sich dabei die CSU durch, rückt Schwarz-Grün in weite Ferne. Und auch der Ton in der Großen Koalition wird rauer werden, denn erstmals seit langer Zeit bietet die Union wieder Angriffsfläche. Kurz: Alles steht auf dem Prüfstand. Uns stehen also spannende inhaltliche Debatten in den Parteien ins Haus. Einige bereits geschriebene Entwürfe für die Wahlprogramme 2017 müssen wohl noch einmal grundlegend angefasst werden. Die anstehenden Parteitage werden mehr denn je die innerparteilichen Flügelkämpfe offenlegen. Volatile Zeiten – nicht nur für die Parteien, sondern auch für Unternehmen. Einige von ihnen sollten spätestens jetzt beginnen, ihre Berührungsängste gegenüber der Linken zu überdenken.


Marc Stanitzki

Director Public Affairs, fischerAppelt


Die starken Verluste von SPD und CDU und der Erfolg der AfD dürften die Diskussion um den richtigen Umgang mit der Flüchtlingsthematik erneut aufheizen. Beide Volksparteien müssen auf Bundesebene Strategien entwickeln, um große Verluste bei der Bundestagswahl zu vermeiden. Auch die Berlin-Wahl hat gezeigt, dass das Bilden einer Großen Koalition aus CDU und SPD als „Notlösung“ nicht mehr selbstverständlich ist. Die Liberalen setzen ihre Rückkehr in die Landesparlamente fort. Für mich ein Zeichen, dass die Union in zwei Richtungen verliert. Flüchtlingspolitik und auf der anderen Seite nachlassendes Vertrauen in die wirtschaftliche Kompetenz.
Insgesamt stehen diese Ergebnisse im Zeichen der Unsicherheit.


Medienmacher



Laura Himmelreich

Chefredakteurin, Vice


Viele Berliner hatten den Eindruck, sie müssen sich bei der Wahl nicht für eine Partei entscheiden, sondern für das kleinste Übel. Am Ende haben sie ihre Stimmen recht gleichmäßig über das Parteienspektrum verteilt. Das macht zwar Regieren nicht einfacher, spiegelt aber ganz gut den Wahnsinn und die Vielfalt dieser wundervollen Stadt wider.


Lars Petersen

Chefreporter bei B.Z. und BILD


Bei dieser Wahl gibt es eigentlich nur Verlierer, denn die Stadt droht in ein linkes (Regierung aus Rot-Grün-Rot) und ein rechtes Lager (Opposition CDU, FDP, AfD) gespalten zu werden. Die SPD ist zwar Gewinner, wurde aber wegen ihrer „Uns gehört die Stadt“-Mentalität abgestraft. Einen Putsch gegen Müller wird es wohl nicht geben, die Tage von CDU-Chef Frank Henkel sind dagegen gezählt. Außer, dass sich der Trend aus Mecklenburg-Vorpommern bestätigt, hat die Berlin-Wahl bundespolitisch keine Auswirkungen, da die Ursachen in dem schlechten Ergebnis vor allem Berlin-spezifische Themen sind: schlechte Verwaltung, BER, Lageso, Bürgeramts-Chaos.


Katharina Hamberger

Korrespondentin im Hauptstadtstudio des Deutschlandradios


Das Ergebnis der Berliner Abgeordnetenhauswahl ist ein Ausdruck dafür, dass es keine der bisher im Parlament vertretenen Parteien geschafft hat, Lösungsansätze für die tatsächlichen Probleme der Stadt anzubieten. Hinzu kommt ein sehr uninspirierter Wahlkampf, bei dem keine Partei voll überzeugen konnte. Auch nicht die SPD. Sie ist zwar Wahlsieger, aber nicht über das Ergebnis einer Klientelpartei hinaus gekommen. Anstatt sich selbst zu feiern, wäre es ehrlicher, nun die Fehler genau zu analysieren.
Selbes gilt für die CDU: Sie kann und darf für ihr Abschneiden nicht andere verantwortlich machen – weder die SPD, noch die AfD und nicht die Bundespolitik. Das gilt vor allem für Frank Henkel. Er war Innensenator und hat offensichtlich das Amt nicht genutzt, um Probleme anzugehen. Das hat er zu spät gemerkt und dann ist ihm nichts Innovativeres eingefallen, als ein Burkaverbot Es reicht aber nicht mehr aus, dem Wähler nur noch populistische Brocken hinzuwerfen.
Henkel sollte nicht weiter an seinem Stuhl kleben, sondern Platz für eine neue Spitze machen und damit eine_n Oppositionsführer_in mit Kraft und Macht in der Partei. Denn was eine Koalition betrifft, sollten sich SPD, Linke und Grüne zusammen tun. Es wäre die einzig wirklich handlungsfähige Koalition.
Bundespolitisch wird es dieselben Reflexe, wie schon nach der Wahl in Mecklenburg-Vorpommern, geben – auch wenn bei dieser Wahl vor allem Berliner Themen eine Rolle gespielt haben. Aber so ein Ergebnis ist vor allem für die Gegner von Merkels Politik ein guter Aufhänger, um ihre Kritik noch zu verstärken. Die SPD nimmt das Ergebnis nun mit auf den Parteikonvent zu CETA – und wird dort nicht die Stimmung verbessern.


Henning Kruse

Redaktionsleitung, WELT Kompakt


Es war schon kurios, wie sich Michael Müller mit 21,6 Prozent als „Wahlsieger“ feiern ließ. Und wie Frank Henkel tumb versuchte, von eigenem Versagen abzulenken. Aber: Wer soll diesen Flickenteppich regieren? Es wird wohl auf Stillstand herauslaufen!


Teresa Bücker

Redaktionsleiterin, EDITION F


Bei aller Euphorie über eine mögliche Rot-rot-grüne Koalition aus dem linken Lager, die Parteien haben bislang keine wirksame Strategie gefunden, um das Wahlergebnis für die AfD niedrig zu halten und es greift viel zu kurz, die Erfolge der AfD mit der Einwanderungspolitik zu erklären. Ein Negative-Campaigning gegen die AfD ist auch auf Bundesebene für 2017 kein geeigneter Ansatz.


Thomas Steinmann

Redakteur, Capital


Die Zeiten, in denen zur Not immer eine Große Koalition geht, sind vorbei. Selbst für Rot-Schwarz oder Schwarz-Rot reicht es nun häufig nicht mehr – und zwar nicht nur in Berlin. Wir erleben das Ende der klassischen Volksparteien.


Ruth Ciesinger

Verantwortliche Redakteurin Online, Tagesspiegel


Michael Müller sieht zwar „einen klaren Regierungsauftrag“ für die SPD, aber mit dem schwachen Wahlergebnis von 21,6 Prozent werden die Koalitionsgespräche für ihn nicht leicht werden. Zumal die Linke, die sich als einzigen echten Wahlsieger versteht, sich nicht wie bei rot-rot unter Klaus Wowereit von den Sozialdemokraten ein zweites Mal marginalisieren lassen will. Trotzdem wird es jetzt aller Voraussicht nach zu einer rot-rot-grünen Koalition kommen. Gar nicht sicher dagegen ist, dass der Regierende Bürgermeister lange Michael Müller heißen muss. Denn beim nächsten politischen Fehler dürfte ihn die eigene Fraktion fallen lassen.


Jan Thomsen

Redakteur Landespolitik, Berliner Zeitung


Berlin glaubt den großen Parteien nicht mehr. Die AfD ist zwar auch hier stark, aber in der Hauptstadt hält eine starke Linke dagegen. Das werden kämpferische fünf Jahre.


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Klas Roggenkamp

Klas Roggenkamp

… macht wahl.de seit 2005, seit 2016 für appstretto. Verbindet Digital & Politik zu erfahrbaren Angeboten – technisch, inhaltlich, optisch. Wahlkampferprobt und agenturerfahren.
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