Interessenartikulation und –aggregation, so steht es in jedem Einführungswerk über Parteienforschung, ist eine der Kernfunktionen politischer Parteien in pluralistischen Gesellschaften. Oder weniger akademisch: Im Wahlkampf müssen Parteien ihrer eigenen Klientel Standpunkte verdeutlichen und Unentschlossene überzeugen. Klingt doch nach einer potentiell spannenden Angelegenheit. Und dennoch attestieren Beobachter dem Bundestagswahlkampf 2013 langweilig, gar entpolitisiert zu sein. Oder sie begründen sehr bemüht, warum er es gerade nicht ist – denn er sei ja eigentlich, so ganz im Gegenteil, irre spannend.

Dabei gab es bei genauerem Hinsehen bisher tatsächlich interessante, weil streitbare Wahlkampfmomente. Denn aus allen etablierten Parteien kamen einige beherzte und durchaus kreative Vorschläge im Kampf gegen gesellschaftliche Großprobleme: So will Horst Seehofer die Infrastrukturfinanzierung mit einer „Autobahnmaut für Ausländer“ auf eine neue Basis stellen. Sein Parteifreund Norbert Geis will den Jugendschutz in den neuen Medien gesichert wissen und fordert einen Internet-Pornofilter (nach britischem Vorbild). Und die Grünen wollen die Verbraucher sogleich für die Problematik industrieller Tierhaltung, den Klimawandel und die Notwendigkeit gesundheitsbewusster Ernährung sensibilisieren, indem sie einen Vegetariertag in deutschen Kantinen vorschlagen. Ja, das ist Populismus, da werden nur wenige widersprechen.

Setzt man voraus, dass die Absicht hinter diesen Vorschlägen nicht war, den Souverän zu unterhalten, stellt sich aber umso nachdrücklicher die Frage nach dem zugrundeliegenden politischen Kalkül: Welcher Logik folgen solche Vorstöße? Immerhin stammen sie von erfahrenen Politprofis, die einen ganzen Beraterstab hinter sich wissen.

„Die Sch***-Mieten sind zu hoch!“

Erklären lässt sich das gut an einem weiteren Beispiel: der Mietpreisbremse. Seit Ende Mai steht nun fest, dass auch die Union in ihrem Wahlprogramm für eine Begrenzung von Mieterhöhungen bei der Wiedervermietung bestehender Wohnungen eintritt. Mit Ausnahme der FDP sind nun alle im Bundestag vertretenen Parteien für diese Maßnahme.

Zunächst fügt sich die Mietpreisbremse nicht so leicht in die Reihe der anderen Beispiele ein. Sie wirkt, jedenfalls auf den ersten Blick, weit weniger opportunistisch. Doch die Union übernahm mit der Mietpreisbremse gezielt eine sozialdemokratische Idee. Darum lässt sich an diesem Beispiel gut nachvollziehen, wie populistischen Mechanismen im Wahlkampf genutzt werden, um den eigenen Stimmanteil zu maximieren:

1.   Problembewusstsein bei besonders emotionalen Themen demonstrieren

Das Thema Miete ist jedem Bürger vermittelbar. Es trifft aber vor allem bei urbanen Wählern einen Nerv. Rasante Mietsteigerungen, Wohnungsmangel und Gentrifizierung sind nun mal eindeutig Probleme von Großstädten. Manchen Direktkandidaten in einem großstädtischen Wahlkreis veranlasst das zu drastischen Formulierungen. Für die Union war ein solches Großstadtthema sicherlich reizvoll, weil sie sich in den Städten traditionell schwer tut. Die Mietpreisbremse ist für sie auch als Antwort auf innerparteiliche Forderungen nach einer urbanen „Charme-Offensive“ zu verstehen.

2.   Eine einfache Lösung für komplexe Probleme anbieten

Populistische Lösungen müssen dem Gefühl nach gut klingen. Gerade in den Breitenmedien wird tendenziell eher simplifiziert, werden knackige Botschaften gesucht. Eine Deckelung der Mieterhöhung bei Mieterwechsel ist einfacher und wirkungsvoller zu kommunizieren, als etwa eine Reform der steuerlichen Absetzung für Abnutzung (AfA). Sie findet schnell eine breite Unterstützerschaft. Mahnende Stimmen haben es schwer gegen diese spontane Übermacht der Befürworter. Die Kritik, die Maßnahme ändere nichts an der Ursache des Problems, also dem großstädtischen Wohnungsmangel, sie könne sogar kontraproduktiv wirken, weil sie Investitionen abwürgt, wird schlicht übertönt.

3.   Verkürzung der Aufmerksamkeits- und Verwertungszyklen ausnutzen 

In der heißen Wahlkampfphase steigt die Themen-Volatilität der Presseberichterstattung. Populistische Themenexperimente nutzen die verkürzten Aufmerksamkeitszyklen aus. Die Berichterstattung kann so jedoch auch zu einer Empörungsmaschinerie werden, die beim Bürger Gleichmut hervorruft – neben die Politikverdrossenheit tritt Medienverdrossenheit. Letztlich kanibalisiert sich die Politik mit populistischen Forderungen also auch selbst.

Gerade für die Unionsführung war die Mietpreisbremse ein bewusstes „Testen des Wassers“. Eigentlich ist diese im bürgerlichen Lager ein ideologischer Fremdkörper. Der Beschluss der Kanzlerin, sie dennoch ins Wahlprogramm aufzunehmen, reiht sich aber ein in eine Historie anderer Richtungsschwenks, wie dem Atomausstieg, der Einführung von tariflichen Mindestlöhnen und der Abschaffung der Wehrpflicht. Sie alle waren in der Union ursprünglich entschieden abgelehnt worden. Die Parteiführung konnte darauf hoffen, dass ihr der Parteitag die Gefolgschaft auch diesmal nicht verweigern würde, angesichts Merkels innerparteilicher Alternativlosigkeit und der disziplinierenden Wirkung des Wahlkampfes.

Wo endet Populismus, wo beginnt „reguläre Programmatik“?

Nun ist der Populismusvorwurf in der Politik ein gern genutztes (wenn auch nicht immer sehr intelligentes) rhetorisches Mittel. Und ein gelegentliches „Aussprechen, was Sache ist“ mag als Korrektiv zum Eliten-Neusprech über lebenslanges Lernen, Globalisierung und nachhaltigem Konsum sogar eine Daseinsberechtigung haben. Dennoch: Bleibt bei allzu opportunistischem Stimmenfang nicht zu Recht ein schaler Beigeschmack?

Anfang Juni hatte Merkel noch kokettiert, die Mietpreisbremse sei zwar eine SPD-Idee. Aber wenn "die SPD mal als erste 'ne gute Idee hatte", dann sei sie "doch die letzte", die diese verhindern würde. Dann jedoch kam die letzten Sitzungswoche der zu Ende gehenden Legislatur: Gemeinsam mit der FDP stimmte die Unionsfraktion gegen einen Oppositionsantrag, der die Mietpreisbremse 1:1 aus dem CDU/CSU Wahlprogramm übernommen hatte. Grund hierfür war die Koalitionsräson. Die Liberalen blieben stur. Und so wird klar:

Sollte Schwarz-Gelb nach der Wahl weiterregieren, könnte die Deckelung von Mieterhöhungen schnell Wahlkampfgetöse von gestern sein.

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Jacob Aleyt

Jacob Aleyt

Jacob Aleyt ist Junior Berater bei der PR-Agentur ergo Kommunikation im Bereich Public & Corporate Affairs. Vor zwei Jahren wechselte er von einer Stelle als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag in die professionelle politische Kommunikation.