Man müsste Zuhören können! – Welche Themen kümmern politisch diskutierende Nutzer? Welche Argumente ziehen? Welcher Aspekt drängt nach vorne? Wie werden Höchstgeschwindigkeit und Spähaffäre diskutiert? Welche anderen Themenkarrieren prägen die Diskussion zum Bundestagswahlkampf im Netz?

Diesen Fragen geht das Projekt wahlkampfanalyse.de seit etwas mehr als einem Monat auf den Grund: Initiatoren sind die auf Social-Media-Analyse spezialisierte complexium GmbH und die Kommunikationsberatung eck consulting group. Die Analysen nutzen dabei innovative Computer-linguistische Algorithmen, die die großen Beitragsmengen auf ausgewählten Politik-Foren und Nachrichten-Portalen im Dreistundentakt inhaltlich auswerten.

Auswertung meint hierbei, jene Begriffe, Themen und Kontexte automatisiert zu identifizieren, die das Diskussionsfeld signifikant prägen. Diese Suche ohne Vorgabe fördert bisweilen auch Überraschendes zutage. Im Business-Bereich wird dies Früherkennung genannt.

Unter wahlkampfanalyse.de findet sich das Portal, unter http://wahlkampfanalysecnt.complexium.de/live/ lässt sich das Werkzeug für eigene Fragestellungen ausprobieren. Durch das Analyseteam sind bisher rund zehn Analysen zustande gekommen. Es wird deutlich:

Zumindest vor der Stimmabgabe ist Zuhören deutlich spannender als Zählen.

Veranschaulicht werden die Ergebnisse im complexium.galaxy-Tool durch

  • tägliche Themen-Rankings,
  • inhaltliche Clusterings und
  • eine interaktive Netzwerk-Landkarte (Mapping).

Damit werden sowohl Entwicklungen im Zeitablauf analysierbar, als auch detaillierte Lagebeurteilungen möglich.

Kurze Halbwertszeit von Wahlkampfthemen: Wellenreiten.

In den ersten Cases wurden die Themen in der frühen Phase des Wahlkampfes Anfang Mai analysiert. Kernthemen der Diskussion damals waren einerseits der Gründungsparteitag der Alternative für Deutschland (AfD) und ihre Auswirkungen auf die deutsche Parteienlandschaft sowie der Vorschlag des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel zu einem Tempolimit auf deutschen Autobahnen.

Bereits der Vergleich der ersten mit der zweiten Maiwoche zeigt ein Phänomen, das sich in den darauffolgenden Wochen bestätigt: Die Halbwertszeit der meisten Themen im Wahlkampf ist sehr begrenzt und übersteigt kaum einmal zwei Wochen. Schon gegen Mitte Mai sind die Begriffe „AfD“ und „Tempolimit“ längst nicht mehr so präsent wie noch einige Tage zuvor. Ähnlich erging es dem Veggie-Day und anderen Kurzzeitthemen. Andere Aspekte erreichen im Ranking gar nicht erst die Top-10. Wer aber eine Diskussion nachhaltig prägen möchte (ob in der Politik- oder der Geschäftswelt), muss versuchen, diese Spitzenplätze zu erreichen. (Übrigens eine gute Evaluationsmöglichkeit für Ihre Kommunikationsagentur).

Diskussion zur NSA-Spähaffäre im Wandel: Der Wind dreht sich.

Eine Ausnahme von dieser Regel ist das beherrschende Thema der letzten zwei Monate: der NSA-Spähskandal. Auf wahlkampfanalyse.de wurden dazu bisher zwei Analysen durchgeführt, bei denen sowohl die redaktionelle Berichterstattung auf Spiegel Online als auch die Foren-Kommentare aufgenommen wurden. Die erste Analyse zum Thema zeigt einige interessante Punkte.

  1. Politische Entscheidungsträger stehen zunächst nicht im Mittelpunkt der Diskussion. Weder Bundeskanzlerin Merkel, noch US-Präsident Obama oder die Bundesminister der betroffenen Fachressorts (Pofalla, Friedrich, Leutheusser-Schnarrenberger) werden zentral diskutiert.
  2. Das persönliche Schicksal Edward Snowdens beschäftigt Redakteure und Nutzer. Kommentiert werden seine Flucht über Hongkong nach Moskau sowie die lange Asylsuche und die persönlichen Hintergründe und Motive des Whistleblowers.
  3. In der Nutzerdiskussion werden die redaktionellen Themen aufgegriffen, aber emotional abgehandelt. Wertende Begriffe wie „Schnüffelallianz“ und „Verräter“ tauchen vor allem dort auf.

Der zweite Case zur NSA-Spähaffäre verdeutlichte den Wandel in der Diskussion. In den letzten zwei Juli-Wochen rücken durch Auftritte in der Bundespressekonferenz und Aussagen im Parlamentarischen Kontrollgremium die politischen Schlüsselpersonen der Bundesrepublik in den Fokus. Die Spähaffäre und die politischen Implikationen werden damit endgültig auch zum Wahlkampfthema.

Die Gewichte im Kontext der Themenkarriere haben sich in kurzer Zeit verschoben und eine Änderung der Zielrichtung bewirkt.

Die complexium.galaxy zeigt den veränderten Spin.

Personen wichtiger als Parteien

Dieser Fokus auf Personen ist ein weiterer Umstand, den dieser Analysemodus untermauert. Viel lieber als mit dem anonymen Social-Media-Team der Parteien-Fanpages kommunizieren die Nutzer direkt mit den Kandidaten. Gleichzeitig sind die sozialen Medien ein Kommunikationskanal mit hohem Potenzial, denn mit vergleichsweise wenig Aufwand kann hier ein großes Publikum erreicht und angesprochen werden.

Die aufgebaute Computer-linguistische Analytik erlaubt ein präzises Verstehen der vorherrschenden und aufstrebenden Themenkarrieren und ermöglicht die passgenaue Einbringung der eigenen Positionen. Vor der Teilnahme aber steht das Zuhören, was nunmehr sehr ökonomisch umgesetzt werden kann.

Kaum etwas ist so transparent wie #Neuland.

Ausblick: Still ruht die See?

In den ersten Wochen des Wahlkampfes zur Bundestagswahl konnte sich neben der NSA-Spähaffäre kein weiteres Thema dauerhaft behaupten. Einige kleinere Themen sorgten stattdessen für kurzfristige Aufreger, aber eigneten sich nicht als Diskussionspunkt über wenige Überschriften und Talkshows hinaus. Ob der Wahlkampf noch bissiger wird, hängt auch von dem Verhalten der Parteistrategen ab. Bis jetzt jedenfalls regen Werbespots, Plakate, Podiums-Diskussionen und Talkshow-Auftritte nicht zu großen Diskussionen an. Damit wird Raum gelassen für eine ungesteuerte Themenentwicklung, die sich vielleicht schon von unten im galaxy-Ranking hocharbeitet. Schauen Sie doch einfach einmal nach.

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Prof. Dr. Martin Grothe

Prof. Dr. Martin Grothe

Prof. Dr. Martin Grothe ist CEO der complexium GmbH, Berlin. Das Beratungsunternehmen unterstützt dabei, Strategie-, Kommunikations-, Marketing- und Arbeitgeber-Entscheidungen in der Social Media-Dialogwelt fundiert zu gestalten. Grundlage sind innovative Analyseverfahren, die digitale Kommunikation inhaltlich erschließen, schwache Signale erkennen und Zielgruppen entschlüsseln. Martin Grothe ist zudem Honorarprofessor an der Universität der Künste Berlin für „Digitale Kommunikation/Leadership, Social Media Management".
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